Unio mystica

Die Verschmelzung der Einzelseelen stellt in der Science Fiction ein Mega-Motiv dar. Und nicht nur da. Eine evolutionspsychologische Spurensuche.

 

Ich weiß nicht, ob Ihre Kinder außerirdischer Herkunft sind. Falls ja, gibt es Dinge, die Sie unter allen Umständen vermeiden sollten. Zum Beispiel, ein zu heißes Fläschchen zu servieren. Anderenfalls könnte es geschehen, dass das Kleine Sie hypnotisch-telepathisch zwingt, zur Strafe die eigene Hand in kochendes Wasser zu halten. „Unio mystica“ weiterlesen

In den Verliesen des Selbst

Höhlen als Symbol fürs Unbewusste (Teil II zu „Planetare Eingeweide“)

Nicht nur Gespenster, Vampire oder Werwölfe hat die unheimliche Literatur popularisiert. Zu ihren seltener besungenen Helden gehört die Architektur. Denn was bliebe von der klassischen Phantastik, wenn all die Schlösser, Burgruinen, Kirchen, Friedhöfe, unheimlichen Häuser, unterirdischen Gewölbe, Krypten und Labyrinthe abgezogen würden? „In den Verliesen des Selbst“ weiterlesen

Planetare Eingeweide

Höhlen in der Phantastik: Eine evolutionäre Sichtweise

Die alten Germanen hat es ja unwiderstehlich in den sonnigen Süden gezogen. Bei den  Germanen von heute dürfte es keinen Deut anders sein. Wahrscheinlich sind sie schlicht Opfer ihrer Gene.

Untersuchungen haben zu Tage gefördert, dass Menschen überall auf der Welt eine Vorliebe hegen für eher milde Temperaturen und Landschaften mit offenem Grasland, angereichert mit Bäumen, Wasser und Tieren. Vermutlich stellen diese Vorlieben ein Echo der afrikanischen Savanne dar, in der unsere Art den aller­grö­ßten Teil ihrer biologischen Evolution vollzog. Allein schon die Über­ein­stimmungen in den beliebtesten Motiven der Landschafts­malerei aus skandinavi­schen Ländern über die Niederlande und Italien bis hin nach China springen unmissverständlich ins Auge.

Aber fehlt in diesem anheimelnden Bild nicht vielleicht ein Detail? Ist es möglich, dass der Mensch neben einer evolutionär erworbenen Sehnsucht nach afrikanischer Savannenidylle noch andere ökologische Vorlieben entwickelt hat? Zum Beispiel für Höhlen?

Dass eine durchaus knifflige Beziehung zwischen Mensch und Höhle bestehen könnte, offenbart sich, wenn wir den recht eigenartigen Verlauf unserer Evolution Revue passieren lassen. Einer­seits: Nirgendwo in unserem noch affenartigen Stammbaum findet sich irgend­etwas, das sich mit unterirdischen Behausungen wie Fuchs- oder Kaninchenbauten vergleichen ließe. Auch die ersten zweibei­ni­gen Vorgänger der Menschen, die Australopithe­cinen, führten wie die afrikanischen Menschenaffen ein Leben unter freiem Himmel.

Andererseits: Vor ungefähr zwei Millionen Jahren änderte sich das Bild, als neue Frühmenschen­formen die Bühne betraten. Deren Gehirne waren größer, außerdem benutzten sie schon einfache Werkzeuge und sehr früh wohl auch das Feuer. Und sie lebten in Höhlen. Da dieser Frühmensch sich nicht mehr nur auf die Uferniederungen von Flüssen und Seen beschränkte, sondern – teil­weis­e wohl dem Jagdwild folgend – ins offene Land vorstieß, benötigte er Rückzugs­orte und Schutz vor Raubtieren.

Die archäologischen Quellen sprechen dafür, dass unsere Vorfah­ren nie ausschließlich in Höhlen gelebt haben. Aber sie taten es sehr oft. Anhand einer kleinen Stichprobe aus der Literatur schätze ich, dass es sich bei ungefähr 50% aller Fossilfundplätze um bewohnte Höhlen handelt.

Ist es also möglich, dass im Verlauf der menschlichen Entwicklungsgeschichte so etwas wie ein angeborener Drang in Richtung Höhle hervor­keimte? Vergleichbares ist immerhin übers gesamte Tierreich hinweg anzutreffen. Da gibt es Höhlen­insekten, Höhlen­fische und Grotten­am­phi­bien. Die biologische Fachbezeich­nung dafür lautet troglophil (von altgriechisch „trogle“ = Höhle und „philein“ = lieben, höhlenliebend also). Unter den Säugetieren sind es beispiels­weise Fledermäuse, Kaninchen oder Murmeltiere, die künstliche oder natürlich geschaffene Hohlräume besiedeln – und natürlich Maulwür­fe. Sogar Raubtiere wie einige große Katzen­arten, Bären und Hyänen lassen sich hier einreihen. Sehr wahrscheinlich, dass es beim Gerangel um die besten Plätze immer wieder zu Zusammen­stößen zwischen Mensch und Tier gekommen ist.

Höhle

Unterm Strich scheint es sich bei der Inbesitznahme von Höhlen um eine viel­verspre­chende Strategie zu handeln. Insgesamt also gar nicht so unwahrschein­lich, dass sich  unsere Spezies einen gewissen Stich ins Troglophile angeeignet hat. Zwei Millionen Jahre Evolution hätten mehr als Zeit genug geboten. Auch der Verhaltensfor­scher Otto Koenig sieht den Menschen als ökologisch angepasstes Wesen, das es bevorzugt, seine Umgebung vom sicheren Höhlen­versteck aus zu beobachten.

Diese Anpassung hallt im modernen Menschen nach. Nicht nur, dass Anthropo­logen auf antike Schriftsteller hinweisen, bei denen sich eine Vielzahl von Textstellen zu Troglodyten (Höhlenbe­woh­nern) finden lassen. So viele, dass es unwahrscheinlich ist, dass es sich hier in Gänze nur um Sagen handeln sollte. Auch die Puebloindianer im Südwesten der USA errichteten bis vor wenigen Jahrhunder­ten ihre Behausungen unter gigantischen Felsvor­sprüngen. Einige Stämme in Südafrika und Indien leben bis heute in Höhlen.

Aus der Psychoanalyse stammt ein weiteres Indiz. Die Rede ist von immer wieder­keh­renden Motiven unserer Nachtträume. Und da nehmen Höhlen eine prominente Stellung ein. Auch wer sich nicht Siegmund Freuds Deu­tung anschließt, dass es sich um Symbole  weiblicher Geschlechts­­organe handelt, findet darin einen Hinweis, dass unser nächtlicher Geist von diesem Motiv fasziniert ist.

Auch die moderne Psychologie hat die Höhle im Blick. Legionen von Zeitgenossen werden von irrationalen Ängsten vor Spinnen, Schlangen, großen Hunden oder Gewitter gepeinigt. Das Eigenartige an diesen Phobien ist, dass sie sich meist auf eher altertüm­liche Dinge beziehen. Moderner Schnickschnack wie Autos oder elektrische Leitungen flößt kaum jemandem Angst ein – obwohl der wesentlich mehr Menschen auf dem Gewissen haben dürfte.

Bei diesen Angstneigungen handelt es sich also offensichtlich um ein Erbe evolutionärer Vergangenheit. Nun gibt es auch die Klaustrophobie, die Angst vor Enge – sei es in Menschenmassen, im Fahrstuhl oder in der Magnetröhre beim Radiologen. Psychologen führen diese Panik auf die Angst des Frühmenschen zurück, in Höhlen verschüttet oder eingeklemmt zu werden.

Wie sehr es uns Höhlen angetan haben, zeigt sich auch im ganz Alltäglichen. Kinder finden enormes Vergnügen daran, sich kleine Zelte oder Unterstände zu bauen. Besonders Jungen lieben es, sich Erdlöcher zu graben, in denen sie sich verstecken können. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts sprach die Kinder­psy­chologie geradezu von einem Höhlenbauinstinkt.

Und der scheint sich auch bei Erwachsenen noch lebhaft zu äußern. Es gibt Arbeits­psychologen, die klipp und klar gegen Großraumbüros Position beziehen. Weil Menschen ihren geschützten, abgeschirmten privaten Bereich benötigen – eben ihre Höhle, um wörtlich zu zitieren.

Damit ist es Zeit für ein erstes Fazit: Der Mensch war nicht nur in der Höhle. Sondern die Höhle ist immer noch im Menschen.

Einen weiteren Beweis für unsere Höhlenbesessenheit gibt es – die Intensität, mit der sie seit Urzeiten unsere erzählerische Phantasie anheizt. Zum Beispiel in den Mythen vieler Völker. Die Spanne reicht weit: Während die christliche Hölle als unterirdische Wohnstätte verstorbenen Sündern vorbehalten blieb, wurde in den vorchristlichen Sagen Europas auch der „Himmel“ in prächtigen Palästen unter der Erde angesiedelt.

Bei den Tetum auf Indonesien besteht die Überlieferung, wonach die ersten Menschen aus Erdhöhlen ins Freie gelangten. Unter den Navajos kursiert eine Sage, nach der sie von einem Geschlecht „heiliger Menschen“ abstammen, die aus den tiefsten Eingeweiden der Erde Schicht um Schicht bis an die Erdober­fläche empor­ gewandert sind.

Bescheidener nehmen sich Schneewittchen und andere heimische Märchen um Zwerge und Wichtel­män­ner aus, die als tüchtige Bergmänner ihr geheimes Leben im Inneren der Berge führten. Überlieferungen, in denen neben dem Höhlenmotiv auch deutliche Erinnerungen an weit verbreitete Kinder­arbeit durchschimmern.

Noch älter ist das Motiv der Bergentrückung – der Sagentyp vom Volkshelden, der in einer Berghöhle den Augen­blick seiner Rückkehr abwartet. König Artus etwa im Alderley Edge, Karl der Große im Desenberg, Otto I. beziehungs­weise Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser.

Wesentlich weniger kriegerisch, dafür umso sinnlicher bietet sich das Motiv des Venusbergs dar: Die mittelalterliche Mär um die Liebes­göt­tin Venus, die in ihrer Berggrotte mitsamt ihren schön anzuschauen­den Nymphen und Nixen nur darauf wartet, wackeren Rittern den Kopf zu verdrehen. Es wird vermutet, dass dieser Stoff bis auf die Sage von Odysseus in der Grotte der Kalypso zurückgeht.

Über­­haupt üben Grotten auf den Menschen einen ganz speziellen Reiz aus. So sehr, dass sie immer wieder künstlich nachgebaut wurden. Besonders bekannt natürlich die Venusgrotte des bayerischen Königs Ludwig II.

Geht man davon aus, dass beim Menschen sexuelle Scham und das Bedürfnis nach unbeobachtetem Sex zum angeborenen Verhaltens­inventar gehören und Höhlen andererseits „instinktiv“ mit Schutz assoziiert werden, stellen Grotten höchst einladende Schnittpunkte dar.

Nun gibt es nicht nur diesen angenehmen Aspekt. Denn evolutionär betrachtet sollten wir Höhlen mit zwiespältigen Gefühlen begegnen. Zwar bieten sie Schutz,  sind aber auch ziemlich unfallträchtig und von einer Finsternis erfüllt, die das Tag- und Augentier Mensch bedrückt. Außerdem stellen sie oft genug Verstecke von Bären und anderen gefährlichen Bestien dar. Auch in der Mythologie kommt diese Zweischneidigkeit zum Ausdruck. Dort findet sich eben nicht nur das Liebesspiel der Nymphen, sondern auch der mörderische Minotaurus in seinem Labyrinth oder feuer­speiende Drachen.

Schon in der Odyssee stößt man nicht nur auf die Grotte der Kalypso, sondern auch auf die Höhle des Polyphem, des Zyklopen, der Odysseus und seine Mannen gefangen hält und sie einen nach dem anderen auf seine Speisekarte zu nehmen gedenkt.

Auch das Genre des Unheimlichen macht sich diesen bedrohlichen Aspekt zunutze, zum Beispiel in Filmen wie „The Hole“ oder „The Descent“, in dem wir es sogar mit einer Art  höhlenbe­woh­nender Raubtiere zu tun haben.

Für den Kulturwissenschaftler Ralf-Carl Langhals lassen sich auch literarisch und künstlerisch verarbeitete Ruinen und Verliese aufs Höhlenmotiv zurückführen. Dazu sei an die schaurigen Grüfte aus der klassischen „Dracula“-Verfilmung mit Bela Lugosi erinnert.

Höhlen auch in den nicht immer wirklich hochklassigen Science-Fiction-Streifen der 50er. Der „Schrecken des Amazonas“ haust in einer Lagune. In „Earth vs. Spider“ fühlt sich eine Riesenspinne in ihren unterirdischen Gemächern von Teenagern und Rock’n’Roll gestört; und auch Roger Cormans „It“, ein außerirdischer Bösewicht, der aus gebrauchten Gummireifen zu bestehen scheint, nutzt für seine Mußestunden eine Höhle als Rückzugsraum.

Wesentlich beein­dru­cken­der treten uns die gigantischen, an organische Leibeshöhlen erinnernden Labyrinthe des außerirdi­schen Raumfahrzeugs entgegen, wie sie von H.R. Giger für den Horror-Science-Fiction-Klassiker Alien entworfen wurden.

Im neunzehnten Jahrhundert grassierte geradezu eine Zwergenmode unter europäi­schen Anthropologen und Folkloristen. David MacRitchie und andere propagierten die Idee, dass Europa seit der Vorzeit von einer dunklen, stark behaarten Rasse von Pygmäen bewohnt sei, die in versteckten Höhlen hausten. Ihre Existenz sei verantwortlich für unsere Erzählungen von Zwergen, Trollen, Kobolden und Elfen. Von dieser Theorie ließen sich auch Autoren des Phantastischen inspirieren. Wie etwa Arthur Machen in seiner „leuchtenden Pyramide“ und anderen Geschichten, in der diese „Unterweltler“ zum großen Schlag ausholen.

Das Höhlenmotiv ist in der Phantastik derart beliebt, dass Hohlwelt­ge­schich­­­ten ein ganzes Subgenre der Science-Fiction bilden. Schon im Jahr 1692 trat der Natur­philosoph Edmond Halley mit der Theorie auf den Plan, dass die Erde aus mehr­eren ineinander verschachtelten Kugeln besteht, die von bewohnten Hohlräumen voneinander getrennt seien. Sehr bekannt wurde der Roman „Das kommende Geschlecht“ des Briten Edward Bulwer-Lytton, in dem es einen Wanderer unter die Erde verschlägt, wo er auf ein Volk beunruhigend perfekter, dazu noch flugfähiger Übermenschen trifft. Den größten Publikumserfolg – wie sollte es anders sein – erzielte aber Jules Verne mit seiner „Reise zum Mittelpunkt der Erde“.

Von Verne stammt auch die Romanvorlage für die „Reise zum Mond“ von George Méliès, dem ersten Science-Fiction der Filmgeschichte. In diesem 1902 gedrehten Kurzstreifen erkunden Wissenschaftler, die sich mit einer Kanone auf unseren Trabanten haben schießen lassen, ein bizarres Höhlen­reich.

Das Potenzial des Motivs erkannt hat daneben John Wyndham, der später mit den „Triffids“ und den „Kuckuckskindern“ Berühmt­heit erlangte; unter dem Titel „Das ver­­steckte Volk“ widmete er einen seiner frühen Romane einer geheimen, unter­irdisch lebenden Rasse.

Ziemlich gruselig geht es in H.G. Wells „Zeitmaschine“ zu: Dort dienen in ferner Zukunft die ebenso schönen wie anderweitig nutzlosen Eloi den höhlen­bewohnenden Morlocks als Hauptnahrungs­mittel. Auch Tolkiens „Herr der Ringe“ ist sozusagen von einem Höhlensystem durchzogen.  In den unterirdischen Verliesen von Mor­dor wird die Armee der Uruk-hai gezüchtet, in ähnlichen Ver­ste­cken hausen die Riesenspinne Kankra und der unglückliche Gollum. Aber Höhlen sind bei Tolkien nicht nur Orte des Bösen. Auch die Zwerge haben sich tief in ihre Erz führenden Gebirge eingegraben; und sogar die Hobbits machen es sich traditionell in höhlenartigen Behau­sun­gen gemütlich.

In Ecos Foucaultschem Pendel raunt ein gewisser Signor Salon von unterir­di­schen Labyrinthen, die sich unter unseren Großstädten er­strecken. Ein geheimes uraltes Reich – das den eigentlichen Anlass für die Unrast bildete, mit der es die Stadt­planer in Form von U-Bahnen und anderen Projekten seit dem 19. Jahrhundert in den Untergrund trieb. Denn dort residierte die Synarchie, die wahre Welt­herr­schaft. In die Welt gesetzt wurde diese Räuberpistole von diversen Okkul­tisten, die das Zentrum dieses Reiches mit dem legendären fernöstlichen Agarttha gleich­setzten, dessen Faszination sogar bis in die Spitzen des Dritten Reiches ausstrahlte. Heinrich Himmler ging soweit, eine komplette Tibetexpedition auf die Reise zu schicken.

H.P. Lovecraft siedelt in seiner Geschichte „Das Grauen von Red Hook“ ein bemerkens­wert gruseliges Labyrinth unter dem Einwanderer­viertel von New York an. In dem natürlich auch seine gewohnten blasphemischen Kreatu­ren nicht fehlen.

Der Lovecraft-Spezialist Robert H. Waugh weist darauf hin, dass ungefähr zur selben Zeit, als diese Geschichte entstand, am anderen Ende der USA, in San Francisco, eine volks­tümliche Sage umging, nach der der Untergrund der China town von einem unterirdischen Höhlennetz auf mehreren Etagen durchzogen sei. Eine Idee, die der Populärschriftsteller Sax Rohmer für seine Figur des Superganoven Dr. Fu Manchu aufgriff.

Nicht zu vergessen die postapokalyptischen Science-Fiction-Filme, in denen sich die Menschheit nach Atomkriegen und ähnlichen Katastrophen komplett unter die Erde zurückgezogen hat – etwa in „Twelve Monkeys“ oder THX 1138.

Zweites Fazit: Die Phantastik in Film und Literatur ist von Höhlen durchlöchert wie ein Schweizer Käse.

Dies ist ein Vortragstext, der weitgehend dem Kapitel „Planetare Eingeweide“ in den „Nachttieren“ entspricht. Dort finden sich auch Literaturhinweise.

In diesem Blog geht es mit dem Thema weiter im Eintrag „

 

 

 

Foreshadowing

Vorausdeutung: Der Königstrick der schreibenden Zunft

Im Jurassic Park regiert Murphys Gesetz. Es geht schief, was schief gehen kann. Tyrannosaurus und Konsorten dezimieren das Wachpersonal. Das Sicherheitssystem, das für die elektrischen Schutzzäune zuständig ist, funktioniert nicht mehr, und zu allem Überfluss vermehren sich die Urzeitmonster ungeplant wie die Karnickel (um der zoologischen Systematik etwas Gewalt anzutun). 

Schon werfen sich die Velociraptoren berserkerhaft gegen die halb geöffneten Türen des Vergnügungscenters. Dorthin haben sich die letzten Überlebenden geflüchtet. Es sieht nicht gut aus für unsere Helden. Da aber flitzt ein kleines Mädchen von vielleicht zwölf Jahren an den Computer, knackt in Windeseile den digitalen Code und schafft es, das Sicherheitssystem einschließlich der elektronischen Türschlösser wieder in Gang zu setzen.

Ein äußerst dürftiges Happy End, könnte man meinen. Viel unglaubwürdiger wäre die Geschichte auch nicht, hätte das Mädchen die Dinosaurier in kleine Häschen verzaubert. Aber ganz so unbedarft waren die Macher von „Jurassic Park“ (1993) natürlich nicht. Denn einige Zeit vorher war es zu einem kurzen Dialog zwischen Lex, wie das Mädchen hieß, und ihrem Bruder gekommen. In diesem Wortgeplänkel wies sie die Bezeichnung Computerfreak von sich und wollte viel lieber Hacker genannt werden. Ab jetzt war dem Zuschauer klar: Das Mädel hatte es faustdick hinter den Ohren. Und genau dieser im ersten Moment so unbedeutend wirkende Minidialog machte die Bahn frei für die anschließende Handlung. Denn damit blieb die Story glaubwürdig und logisch in sich geschlossen.

Der Trick bestand darin, der Handlung mit entsprechenden Hinweisen vorzugreifen. Und um diesen Trick geht es hier. Er spielt im Erzählerischen eine kaum zu überschätzende Rolle – sei es als subtile Andeutung, sei es als Wink mit dem Zaunpfahl. Der etwas schwerhändige deutsche Ausdruck für diesen Kunstgriff lautet epische Vorausdeutung; die Angelsachsen machen es sich da einfacher und nennen es schlicht Foreshadowing.

Manchmal dient es einfach dazu, Appetit aufs Kommende zu machen. Bereits in der zweiten Strophe des Nibelungenlieds heißt es über die junge Kriemhild: „Später wurde sie eine schöne Frau; ihretwegen mussten viele Kämpfer ihr Leben verlieren.“ (1)

Autor und Schreibtrainer Marcus Johanus findet diesen Einstieg zwar etwas einfach gestrickt und altbacken (2), aber wer würde dasselbe über den Einstiegssatz von Kleists Michael Kohlhaas sagen? „An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.“

Eine ganze Reihe von Filmen folgen diesem Prinzip, indem sie die chronologische Ordnung aufbrechen und mit einer Szene mitten in der Handlung beginnen, die erst in einer Art Rückblende Sinn ergibt. Zu nennen etwa „Pulp Fiction“ oder „Die üblichen Verdächtigen“.

Die Vorwegnahme kann aber auch indirekter geschehen, indem der Storyhöhepunkt zunächst quasi im Modell durchgespielt wird. In John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ erschießt George den Hund, damit es von keinem Fremden erledigt wird. Später wird er dasselbe mit seinem Kumpel Lennie tun (3).

Noch subtiler können dramatische Ereignisse durch Zeichen in der Natur angekündigt werden – etwa durch einen Wetterumschwung oder einen Sturm. Beispielsweise findet diese Erzählstrategie in Harper Lees „Wer die Nachtigall stört“ Verwendung (4).

Gelegentlich bahnt Foreshadowing auch einfach nur einem Gag den Weg. In „Shaun of the Dead“ lässt sich Ed über seinen Mitbewohner Pete aus, mit dem er sich gerade wieder einmal gestritten hat. „Das nächste Mal, wenn ich ihn sehe, ist er tot.“ Prompt tritt ihm Pete beim nächsten Treff als (Un)Toter entgegen (5).

Wichtig ist Foreshadowing natürlich vor allem dann, wenn es darum geht, eine Geschichte möglichst folgerichtig und logisch kompakt erscheinen zu lassen – wie im „Jurassic Park“.

Als weiteres Beispiel dazu kann die Münsteraner Tatort-Episode „Spargelzeit“ herangezogen werden. Ein junges Mädchen wird entführt und mit verbundenen Augen in einem Auto verschleppt. Später kann sie den Täter, übrigens einen uniformierten Polizisten, am Geruch des Duftsteins im Wagen identifizieren. Auch diese Wendung würde enttäuschend beliebig wirken; wenn besagter Duftstein in einer vorangegangenen Szene nicht betont deutlich am Rückspiegel und sehr zentral im Bild gebaumelt hätte. Außerdem wurde der Täter für eine anscheinend unbedeutende Nebenfigur auffallend oft und lang ins Bild genommen. Zusammengenommen bietet dies dem Zuschauer die Chance auf ein Aha-Erlebnis: „Mensch, ja! Da war doch was!“

Betrachten wir die psychologischen Hintergründe für diese Art von Foreshadowing einmal etwas genauer. Vor allem interessiert hier sozusagen die Kehrseite des Phänomens. Was geschieht, wenn der Erzähler aufs Foreshadowing verzichtet? Wie wir gesehen haben, wäre mit ziemlich negativen Publikumsreaktionen zu rechnen. Verständlich, dass der Autor diesen Eklat fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Aber woher diese Ablehnung? Begeben wir uns also auf die Suche nach dem Geheimnis schlechter Erzählungen.

Dazu ist es sinnvoll, sich anzuschauen, was für ein Wesen der Mensch überhaupt ist. Die Spurensuche reicht weit in unsere Stammesgeschichte zurück. Vor dem Hintergrund der Millionen von Tierspezies, die diesen Planeten bevölkern, hebt sich unsere eigene Art vor allem durchs große Gehirn und eine ins Extrem gesteigerte Lern- und Denkfähigkeit ab.

Vor kurzem habe ich eine Dokumentation über Taucher in tropischen Gewässern gesehen. Immer wieder kamen Haie so bedenklich nah, dass sie mit elektrischen Schockern vertrieben werden mussten. Für ein paar Minuten tat der Stromschlag seine Wirkung, dann aber pirschten sich die Fische erneut heran. Denn mittlerweile hatten sie den unangenehmen Vorfall wieder vergessen.

Tiere mit einem so wenig entwickelten Lern- und Erinnerungsvermögen leben gewissermaßen in einem ewigen „Jetzt“ und sind ganz überwiegend auf ihre Instinkte angewiesen – auf im Gehirn festverdrahtete Verhaltensprogramme, die durch neue Erfahrungen kaum geändert werden können.

Ganz anders der Mensch. Nehmen wir eine alltägliche Situation: Warten an der Bushaltestelle. Das meiste an dieser Szene ist verständlich. Aber dieses Verstehen funktioniert nicht durch den reinen Seheindruck. Was ist ein Auto? Was ist eine Straße? Was ist eine elektronische Fahrplananzeige? Was ist ein Busfahrer? Das ist ein Wissen, das nicht im Netzhautbild enthalten ist, sondern im Vorwissen des Betrachters. Und der muss es sich nicht mühsam erst wieder aus dem Gedächtnis kramen, sondern dieses Wissen ist sofort da und vereinigt sich mit der Wahrnehmung automatisch und mit derartiger Selbstverständlichkeit, dass man kaum je einen Gedanken dran verschwendet. Wir nehmen die Umwelt nicht einfach nur wahr, wir begreifen sie.

Wann diese neue Form der Interaktion mit der Umwelt entstanden ist, lässt sich gar nicht genau sagen. Von den Fischen über Amphibien und Reptilien bis zu den Säugetieren haben Hirngröße und Intelligenz stetig zugenommen. Unter den Säugern sind es – neben den Delfinen – unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, die eine bemerkenswert hohe Intelligenz entwickelten. Doch der Weg vom Affen zum Menschen war nochmals von einer explosionsartigen Hirnvergrößerung begleitet. Eine prägnante Wasserscheide dürfte der Übergang vom Reptil zum Säugetier darstellen. In Hinblick auf Neugier und Lernfähigkeit scheint sich hier eine Art Quantensprung ereignet zu haben (6).

Es liegt auf der Hand, dass ein derartiges Informationshandling große Überlebensvorteile bringt. Voraussetzung ist natürlich eine entsprechende Lernfähigkeit. Und vor allem zunächst einmal die Lust am Lernen. Oft saugen wir Information geradezu begierig auf – sei es, dass wir uns im Urlaub lustvoll neuen Eindrücken hingeben, sei es, dass wir einfach nur stundenlang aus dem Fenster schauen.

Dabei geht es nicht nur ums Erlernen von Einzelphänomenen, von den „Vokabeln“ unserer Umwelt, sondern genauso ums Durchschauen von Mustern, Regelmäßigkeiten, Ursache-Folge-Beziehungen: kurz darum, wie die Dinge funktionieren.

Diese Lust am Entdecken strahlt bis in unser ästhetisches Empfinden aus. Bereits Anfang der Siebziger hat der bekannte Psychologie Dietrich Dörner Experimente dazu durchgeführt. Dabei sollten seine Versuchsteilnehmer Farbmuster innerhalb eines Rasters aus kleinen Quadraten nach ihrer ästhetischen Wirkung beurteilen. Es zeigte sich, dass sehr einfache, „langweilige“ Muster und solche mit komplett chaotischer Struktur als eher unbefriedigend bewertet wurden. Am reizvollsten stellten sich komplexe Muster heraus – Muster von Mustern sozusagen. Als besonders befriedigend wird also empfunden, wenn eine Ordnung existiert, die erst einmal erarbeitet sein will (7).

Auch in der Literatur spielt Mustererkennung eine Rolle. So weist der Literaturwissenschaftler Karl Eibl darauf hin, dass Gedichte ihren Reiz vor allem dadurch erhalten, dass beim Zuhören Rhythmus und Reimschema erkannt werden (8).

Ein anderes Beispiel sind Metaphern. Kennzeichnend für sie ist, dass ein Bild auf ein anderes übertragen wird: Blüte der Jugend, Glut der Leidenschaften, Winter des Missvergnügens. Das Verstehen von Metaphern entspricht einer Erkenntnisleistung, bei der Ähnlichkeiten und Beziehungen zwischen zwei Konzepten aufgedeckt werden. Für den Kommunikationswissenschaftler Charles Forceville und seine Kollegen besteht eben darin ihre hauptsächliche ästhetische Wirkung (9).

Dies gibt der Vermutung Nahrung, dass Mustererkennung auch im Verfolgen einer Erzählhandlung eine Rolle spielt – schließlich gilt es, die Erwartung zu erfüllen, dass alle Elemente der Erzählung am richtigen Platz und in einer logischen Beziehung zueinander stehen.

Fatal nur, wenn diese Erwartung nicht eingelöst wird und sich die Story als unwahrscheinlich und nicht nachvollziehbar entpuppt, während die Logik Bocksprünge vollführt. Das Ganze dürfte mit einer anderen Situation vergleichbar sein: Wenn Psychologen im Experiment ihre Versuchsteilnehmer vor Aufgaben stellen, die extrem schwer zu lösen sind, ist eine Form der Reaktion immer wieder zu beobachten: Die Probanden suchen das Versagen nicht bei sich, sondern richten Wut und Enttäuschung gegen die Versuchsanordnung. Oder sie verdächtigen die Versuchsleiter, in Wahrheit ihre Frustrationsreaktionen erforschen zu wollen (10). Eine ähnliche Kante dürfte dem Erzähler blühen, der schlecht gebaute Geschichten auftischt.

Die Bedeutung der Mustererkennung wird auch aus anderer Richtung gestützt. Der Mediziner und Neurobiologe Thomas Grüter ist der Ansicht, dass wir evolutionär geradezu auf Mustererkennung angelegt sind. Das sei auch der Grund dafür, dass wir oft Muster zu erkennen meinen, wo gar keine vorhanden sind. Grüter sieht in diesem Bedürfnis einen der Hauptgründe für die Beliebtheit von Verschwörungstheorien. Die Rätselhaftigkeiten des Weltgeschehens werden durch einfache, auf dem ersten Blick plausibel erscheinende Geschichten erklärt (11).

Dass es sich bei der Mustererkennung tatsächlich um den entscheidenden Faktor handelt, wird besonders an einer bestimmten Art von Filmen deutlich: An jenem Typ, dem die Amerikaner die vornehme Bezeichnung Mindfuck verliehen haben. Kennzeichnend daran ist, dass der Zuschauer über fast die gesamte Länge des Films auf eine falsche Fährte gelockt wird und die wahren Zusammenhänge erst in den letzten Minuten schockartig klar werden, wobei alle vorangegangenen Vermutungen gewissermaßen auf den Kopf gestellt werden. Beispiele sind etwa The 6th Sense, The Mechanic, The Others oder Shutter Island. 

Nehmen wir einmal The 6th Sense: Dort spielt Bruce Willis einen Kinderpsychologen, der alle Höhen und Tiefen des Berufs durchlebt hat und schon einmal von einem enttäuschten Patienten niedergeschossen wurde. Eines Tages wird ihm der neunjährige Cole vorgestellt, der unter rätselhaften Angstzuständen leidet und von der Vorstellung besessen ist, tote Menschen zu sehen. Während sich die Beziehung zwischen den beiden intensiviert und der Psychologe immer handfestere Hinweise auf ein echtes parapsychisches Talent seines jungen Patienten aufdeckt, entfremdet er sich zusehends von seiner Ehefrau. Die beiden sprechen nicht mehr miteinander. Der Film gipfelt im geradezu wahnwitzigen Dreh, dass Bruce Willis entdeckt, dass er selber schon tot ist.

 Der Film war außerordentlich erfolgreich. Keine Rede davon, dass sich die Zuschauer aufs Glatteis geführt fühlten. Im Gegenteil: Zwar wurden Erwartungen und Vermutungen in kürzester Zeit samt und sonders eingestampft, aber dafür bot der Film ein neues, überraschendes und fein gesponnenes Muster, in dem sich eins zum anderen fügte: Klar, dass die Ehefrau nicht mehr mit ihm sprach – weil sie nicht in der Lage war, seinen Geist wahrzunehmen. Klar, dass er nur noch Kontakt zum kleinen Cole hatte – weil der ja Tote sehen konnte. Auch die Frage, wie er einen so brutalen Anschlag hatte überstehen können, war vom Tisch. Er hatte ihn nicht überstanden.

1) Schulze, Ursula (Hrsg.) (2008): Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch- neuhochdeutsch. München.

2) https://marcusjohanus.wordpress.com/2014/04/05/spannender-schreiben-mit-epischen-vorausdeutungen/

3) http://foreshadowing.org/in-literature.html

4) http://udleditions.cast.org/craft_elm_foreshadowing.html

5) https://filmschoolrejects.com/14-great-moments-of-foreshadowing-in-films-aaf02246729b#.du37szfwy

6) Glickman, S.E. u. Sroges, R.W. (1966): Curiosity in Zoo Animals. Behaviour. Vol 26. Nr. 1.

7) Dörner, D. u. Vehrs, W. (1975): Ästhetische Befriedigung und Unbestimmtheitsreduktion. Psychological Research Nr. 37. S. 321-334.

8) Gene und Goethe. DER SPIEGEL. 2007. Nr. 38. S. 206-207.

9) Forceville, Charles u.a. (2006): The Adaptive Value of Metaphors. In: Klein, U., Mellmann, K., Metzger, S. (Hrsg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Paderborn. S. 85-109.

10) Dörner, Dietrich (2004): Die Logik des Misslingens. Reinbek.

11) Hier ein Focus-Text von Grüter: http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/magisches-denken-warum-menschen-an-uebernatuerliches-glauben-a-706517.html. Und hier bei Scobel in der Diskussion mit Daniele Ganser und Andreas von Bülow: https://www.youtube.com/watch?v=isDq_o7Kc34