Unio mystica

Die Verschmelzung der Einzelseelen stellt in der Science Fiction ein Mega-Motiv dar. Und nicht nur da. Eine evolutionspsychologische Spurensuche.

 

Ich weiß nicht, ob Ihre Kinder außerirdischer Herkunft sind. Falls ja, gibt es Dinge, die Sie unter allen Umständen vermeiden sollten. Zum Beispiel, ein zu heißes Fläschchen zu servieren. Anderenfalls könnte es geschehen, dass das Kleine Sie hypnotisch-telepathisch zwingt, zur Strafe die eigene Hand in kochendes Wasser zu halten.

So geschehen im Roman „Kuckuckskinder“ von John Wyndham, unter anderem verfilmt von John Carpenter unterm Titel „Dorf der Verdammten“. Eines Tages fallen die Bewohner des vorher schon eher verträumten Städtchens Midwich samt und sonders in plötzlichen Tiefschlaf, aus dem sie ein paar Stunden später unbeschadet wieder erwachen. Unbeschadet, aber nicht unverändert. Es stellt sich nämlich heraus, dass alle gebärfähigen Frauen der Stadt ungefähr zu diesem Zeitpunkt schwanger geworden sind. Übrigens zur selben Zeit, als über Midwich ein Ufo gesichtet wurde.

Die Kinder sind auffallend hübsch und blond, außerdem geradezu furchtein­flößend intelligent. Allmählich wird klar, dass sie nicht nur telepathisch untereinander vernetzt sind, sondern sich auch zu einem reibungslos funktionierenden Kollektiv verlinken – zum Beispiel, wenn es darum geht, wieder einmal einen dieser blöden, groben Erdlinge zu bestrafen.

In gewisser Weise bilden die Midwich-Kinder so etwas wie einen Super­orga­nismus, in dem jedes einzelne dem Ganzen lediglich als Zelle oder Sinnesorgan dient. Ihre Gehirne sind zu einem einheitlichen Überbewusstsein verschmolzen, das die Befehlszentrale dieses Kollektivs bildet.

Nun ist das weiß Gott nicht das einzige Mal, dass diese Idee in der Science Fiction aufpoppt. Die Vorstellung von Einzelseelen, die sich vereinigen und aufgehen in etwas Größerem, nimmt nicht nur in der Fantastik einen wichtigen Platz ein, sondern greift aus auf Medientheorie, Philosophie und Religion. Ja, es lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass sie einen Hauptbestandteil religiösen Empfindens darstellt.

Die Faszination – und wohl auch nicht selten die Sehnsucht –, die diese Gedanken­figur hervorruft, kann durchaus Kopfzerbrechen bereiten. Denn immerhin gibt es Gründe, mit dieser Idee erheblich zu fremdeln. Wie die weitere Erkundung aber zeigen wird, streckt dieses Faszinosum seine Würzelchen vermutlich weit in unsere evolutionäre Vergangenheit aus.

 

Weichtierkommunismus

Bleiben wir aber erst einmal beim Negativaspekt, der fürs fantastische und unheimliche Genre wohl auch mehr hergibt – bei der Angst vorm feindlichen Kollektiv. Und die wurde neben dem „Dorf der Verdammten“ wohl kaum derart auf die Spitze getrieben wie in den folgenden zwei Stories.

Im Film „Puppet Masters“ infiltrieren kleine, weichtierhafte Außerirdische die USA, indem sie sich auf den Rücken ihrer Opfer heften, wobei sie deren Bewusstsein übernehmen und in engen telepathischen Kontakt zueinander treten.

Beim großen Showdown dringt Spezialagent Sam Nivens in die Invasionszentrale  vor – dem Rathaus von Des Moines, das sich mittlerweile in eine Art organische Tropfsteinhöhle verwandelt hat. Wie weiland Odysseus, der den Lockgesängen der Sirenen zu widerstehen hatte, hat er schwer damit zu kämpfen, sich den telepathischen Einflüsterungen des Schwarms zu entziehen.

Der Film geht auf den gleichnamigen Roman von Robert A. Heinlein (1951) zurück. Dass die Parasiten bedenkliche Ähnlichkeit mit diesen schrecklich kollektivistischen Bolschewisten aufwiesen, die zu Zeiten des Kalten Krieges offensichtlich nichts besseres zu tun hatten, als den Amerikanern ihren way of life zu vergällen, dürfte kein Zufall sein. Robert A. Heinlein war ein Libertärer, der mit dem Anarchokapitalismus zumindest flirtete – mit jener politischen Heilsbotschaft, die Staat und Gesetze komplett auf den Müllhaufen zu werfen gedenkt, auf dass nur noch die segenspendenden Prinzipien des Marktes in der Gesellschaft obwalten.

Mindestens ebenso paranoid geht es in den „Körperfressern“ zu. Mündet die Story im zugrunde liegenden Roman von Jack Finney (The Body Snatchers, 1956) noch ins Happy-End, gerieten die Verfilmungen immer pessimistischer. Besonders hervorzuheben die Version von 1978 mit Donald Sutherland. In diesem Fall kommen die Außerirdischen als Sporen aus dem All. Auf der Erde verwandeln sie sich in große Samenkapseln, die die Gestalt von Menschen einnehmen, um sie zu ersetzen, während die Originale zu Staub zerfallen. Dass wir es hier mit einem Super­bewusstsein zu tun haben, wird im Film nicht explizit gesagt, außerdem kommunizieren die Hülsenmenschen zumindest teilweise ganz konventionell akustisch miteinander (wenn man ihr schweineartiges Gequieke konventionell nennen kann). Andererseits agieren sie extrem koordiniert, zudem scheinen sie auf irgendwelchen telepathischen Kanälen Wind davon zu bekommen, wenn einer der ihren in Schwierigkeiten steckt.

Feindliche Bewusstseinskollektive (im Englischen group minds oder hive minds) spielen daneben etwa auch eine Rolle in der tiefschwarzen Horrorfilmkomödie „Slithers“, im originalen „Quatermass“ der BBC aus dem Jahr 1956 oder in Stephen Kings „Puls“. Auf Wikipedia liefert das Stichwort „group mind“ eine erkleckliche Liste von Romanen, Filmen und Games zum Thema.

 

MEDUSA statt USA

In starkem Kontrast wird die große Vereinigung in anderen Werken als vorwiegend positive Utopie dargestellt.

Im Film „Phase IV“ liefern sich hyperintelligente Ameisen eine Schlacht mit einer Forschungsstation. Am Ende kämpfen sich die beiden letzten menschlichen Überlebenden zum Ameisenbau vor, wo sie vom Tunnelsystem verschluckt werden. Allerdings erwartet sie nicht der Tod, sondern sie werden durch geistige Transformation in Angehörige der Ameisen verwandelt. Nun ist das zwar genau das, wogegen sich die Hauptfiguren in den „Körperfressern“ gewehrt haben, aber in „Phase IV“ wird es in den Schlusssätzen mit einem ziemlich optimistischen Ton unterlegt.

In Greg Bears „Blutmusik“ gelangt ein neu gezüchteter Mikroorganismus ins Freie, um ohne große Umwege eine landesweite Epidemie auszulösen. Allerdings führt die Infektion nicht zum Exitus, sondern zu einer kompletten Reorganisation des Gehirns, das die Fähigkeit erlangt, sich mit anderen Denkorganen zu vereinigen. Die zurückgelassenen Einzelmenschen stehen vor der Entscheidung, ihre Individualität zu bewahren, oder sich diesem Superbewusstsein anzuschließen.

Einer ähnlichen Prämisse folgend schildert der US-amerikanische SciFi-Autor  Theodore Sturgeon in seinem Roman „Das Milliardenhirn“ (The Cosmic Rape, 1958), wie die außerirdische Superintelligenz Medusa in einem Akt freundlicher Invasion die menschlichen Gehirne dazu zwingt, sich miteinander zu verschalten, womit uncoole Dinge wie Krieg, Grenzen und Nationen obsolet werden.

Nicht zu vergessen die Science-Fiction-Heftreihe „Perry Rhodan“, die ungefähr so alt ist wie das Universum selbst. Dort tritt die Superintelligenz Es auf, die aus Milliarden von Einzelseelen besteht, die über keine wirklich stoffliche Basis mehr verfügen. Ein Planet, der sich im Gang seiner Evolution mehr oder minder ins Feinstoffliche verabschiedet und die Rolle eines Wächters und Beschützers übernimmt – das klingt mächtig nach Theosophie, der Mutter aller modernen Esoterik (siehe dazu auch meinen Blogeintrag „Theo, Sophie und die Wurzelrassen“).

Und damit haben wir das Gebiet der Phantastik verlassen. Denn tatsächlich hat die Verschmelzung der Seelen ihren Platz nicht nur im Unterhaltungsgeschäft, sondern auch in weit seriöseren Zusammenhängen. Erstaunlicherweise gibt es zwei Pfade, die in unserer Gegenwart zusammenzulaufen scheinen. Der eine Pfad ist der der Religion – der andere führt übers Silicon Valley.

 

Was hatte Sigmund Freud gegen Sex?

Zum Alten Testament gehört das „Hohelied“, ein längeres Gedicht, in dem sich Braut und Bräutigam gegenseitig anhimmeln. In älterer Zeit wurde diese Unio mystica, die mystische Vereinigung, als Symbol für die Vermählung des Einzelnen mit der Kirche genommen (2). Das Problem dabei ist, dass der Text aus einer Zeit stammt, in der es weit und breit keine Kirche gab – und noch nicht einmal das Christentum. Übersehen sollte man auch nicht, dass während des Altertums in weiten Teilen des Vorderen Orients das Ritual der Heiligen Hochzeit gepflegt wurde: Die Vereinigung des Götterpaares, das im Tempel von Priester und Priesterin auf allerkonkreteste Weise nachvollzogen wurde (1).

Bei dieser Vorgeschichte wundert es nicht allzu sehr, dass vor allem mittelalterliche Nonnen darin die ekstatische Vereinigung der Einzelseele mit Gott herauslasen, die sie in außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen – heute würden wir sagen:  Gipfelerfahrungen – nachzuempfinden versuchten. Wobei diese Visionen oft handgreiflich erotische Gestalt annahmen.

Nicht ohne Ironie ist es, wenn Nonnen beim Thema Religion eher an Sex dachten als Sigmund Freud. Denn für den Wiener Seelendoktor stellten Glaubensdinge allerhöchstens ein geistiges Korsett dar, mit dem sich der Mensch gegen Gefühle der Schwäche und Minderwertigkeit wappnet, indem er die Gestalt eines allmächtigen Übervaters halluziniert.

Gegen diese spröde und desillusionierende Sichtweise focht der französische Schriftsteller Romain Rolland in einem Brief an Freud an. Für Rolland bestand der Kern des Religiösen im „ozeanischen Gefühl“ – im Erlebnis der Entgrenzung und Vereinigung mit dem Kosmos. Verschmelzung vom Feinsten.

Dieses ozeanische Gefühl scheinen in den USA der 60er Jahre einige von der Hippi- und Gegenkultur Bewegte übrigens ziemlich wörtlich genommen zu haben. Dazu entwickelten sie den Isolations- oder Samadhitank, der in einer warmen Salzwasserlösung schwereloses Schweben erlaubte. Von Licht und Geräuschen abgeschirmt, war das Gehirn auf sich selbst zurückgeworfen. Testpersonen berichteten mehr oder minder durchgängig von einem Gefühl der Entgrenzung und Depersonalisation, das sich dabei nach einiger Zeit einstellte. Einige besonders Experimentierfreudige gingen so weit, ihre Tankerfahrungen mit etwas LSD anzureichern.

 

Doppelklick zur Unsterblichkeit

Offensichtlich ist der Vereinigungsgedanke robust genug, sich unbehelligt durch die Jahrhunderte zu schlängeln und in wandelbarer Form immer wieder an die Oberfläche vorzustoßen.

Mindestens einen Schritt abseits der Pfade katholischer Orthodoxie wandelte der französische Jesuitenpriester und Fossilienforscher Teilhard de Chardin. Entsprechend seiner Lehre, die er seit den 20er Jahren öffentlich vertrat, führt die Evolution im Zuge immer umfassenderer technisch gestützter Vernetzung zur Entwicklung der Noosphäre, dem Bereich kollektiven Wissens und Verstandes, der die natürlich-materielle Welt überspannt. Evolutionäres Ziel dieser Noosphäre bestehe im Omegapunkt, dem Zeitpunkt, an dem sich die Menschheit zu einem einheitlichen Geist in Jesus vereint.

In enttheologisierter und weniger utopischer Form wurde dieser Gedanke von verschiedenen Intellektuellen, Gesellschafts- und Medienwissenschaftlern ventiliert. Der britische SciFi-Schriftsteller H.G. Wells sprach vom „Global Brain“, Marshall McLuhan vom „Global Village“. Besonders dem Internet wird die Fähigkeit zuge­sprochen, so etwas wie eine Kollektiv- oder Schwarmintelligenz hervorzubringen.

Höchst willkommen waren diese Ideen seit den 80er Jahren dem Cyberpunk, einem Genre der literarischen Science Fiction. Zentrale Themen bildeten die Revolution der Digitaltechnik, Künstliche Intelligenz und die immer weitergehende Symbiose des Menschen mit seiner technischen Umwelt bis hin zur geistigen Übersiedlung in die Noosphäre (3).

Ebenfalls in die futuristischen Vollen greift eine weitere Fraktion. Wobei sie das Ganze nun allerdings nicht als Phantastik, sondern bierernst genommen wissen will. In wenigen Jahrzehnten werde Künstliche Intelligenz der menschlichen ohnehin hoffnungslos überlegen sein (ab dem Zeitpunkt der sogenannten Singularität). Warum also den arg ergänzungs­bedürftigen menschlichen Geist nicht gleich mit seiner Computerum­welt vernetzen? Etwa durch intelligenzverstärkende Implantate, die in der Lage sind, das Hirn auf unbekannte Höchstleistungen zu tunen? Oder das eigene Bewusstsein komplett zu digitalisieren und in den Speicher laden? Wo es sich in der „global brain cloud“ ganz nach Gusto mit anderen Upload-Psychen zusammenschalten kann?

Transhumanisten nennen sich die Propagandisten dieser hippen Elektroreligion, die auch nicht davor zurückschrecken, dem Bewusstsein in Form von Bits und Bytes Unsterblichkeit zu verkünden.

Dem Journalisten Thomas Wagner zufolge stehen mit Elon Musk, Reid Hoffman, dem Gründer von LinkedIn, oder etwa Peter Thiel die ganz großen Namen des Silicon Valley hinter dieser „kalifornischen Ideologie“, die es immerhin schon zur Gründung eigener Universitäten und Parteien gebracht hat (4).

Nicht nur die technische Realisierungsmöglichkeit beurteilt der Informatikdozent Rainer Fischbach äußerst skeptisch, sondern meint in diesen informationellen Blütenträumen außerdem den aktuellen Ausdruck puritanischer, körperfeindlicher Erlösungsdogmatik ausmachen zu können (5).

 

Kleinliche Einwände

Sei es, wie es ist. Alles spricht dafür, dass Verschmelzung nach wie vor allseits hoch im Kurs steht. Fragt man nach den Gründen, drängen sich allerdings zuerst die Gegenargumente auf. Allein schon die logischen Stolperfallen stellen einen harten Brocken dar:

Mein Bewusstsein ist das Produkt einer Unzahl kooperierender Nervenzellen. Trotzdem erscheint es mir als Einheit und nicht als Konzert von Milliarden Einzelteilen.

Wie also könnte ein verschmolzenes Bewusstsein aussehen? Bildeten die Einzelpsychen eine neue übergreifende Einheit, würden sie ihre Individualität verlieren – wie die Nervenzellen. Das bedeutet nun allerdings weniger eine Verschmelzung als eine Auslöschung.

Demnach müsste Verschmelzung also heißen, dass die Einzelpsychen erhalten bleiben. Und zwar so, dass jedes Einzelbewusstsein von allen anderen bis in die letzten Details Kenntnis hat. Denn operierten die Psychen abgeschirmt voneinander, stellten sie so etwas wie Einzelwesen dar. Und dann hätte man sich die Verschmelzung genauso gut sparen können.

Wenn nun aber mein recht begrenztes individuelles Bewusstsein noch mit Milliarden anderer Bewusstseinsinhalte gefüllt wäre –  müsste das nicht den absoluten und sofortigen Informationskollaps bedeuten? Was sich in so einem Superbewusstsein dann auch gleich milliardenfach ereignen würde.

Das ist nur eines der Paradoxa, auf die stößt, wer die Sache ein wenig in die Tiefe denkt. Außerdem müssten sich in so einem Bewusstseinskonglomerat so viele gegensätzliche Antriebe und Motivationen aneinander reiben, dass sich eine „seelische“ Dissoziation ergäbe, die Psychiater beim Einzelmenschen wohl schlichtweg krankhaft nennen würden.

 

Die Staatskunst der Qualle

Soviel zur reinen luftigen Logik. Skepsis anmelden ließe sich auch aus ganz anderer Richtung: Aus der Verhaltensbiologie. Denn in Bezug auf unser Thema scheinen deren Befunde in die Frage zu münden: Was hat ausgerechnet der Mensch mit Verschmelzung zu kriegen?

Um zu verstehen, was damit gemeint ist, sei ein Blick auf das Monumentalwerk „Sociobiology“ aus der Feder des großen Evolutionsbiologen E.O. Wilson geworfen (6). Im Kapitel „Die vier Zinnen der sozialen Evolution“ schlägt er einen gewaltigen Bogen von einfachen Wirbellosen bis hin zum Menschen, indem er deren Höhepunkte der Gruppenbildung vergleicht.

Staatsquallen, Korallen oder Moostierchen bilden Kolonien, in denen die Individuen sich derart eng zusammenschließen, dass sich von einem Superorganismus sprechen lässt. Dies Ausmaß an Kooperation ist möglich, weil die Einzeltiere genetisch identisch sind. Es handelt sich um Klone, die durch Knospung entstanden sind. Außerdem ist ihre körperliche Struktur so simpel, dass sie sich ohne viel Aufhebens zu Bestandteilen des Kolonieorganismus ummodeln lassen. Dies sind die wahren Verschmelzer.

Bei den staatenbildenden Insekten wie Bienen, Ameisen oder Termiten verharren die Individuen im Zustand getrennter, gut erkennbarer Einzelwesen, die im Gegenzug dazu einen wesentlich komplexeren Körperbau mit Augen, Beinen, Flügeln etc. aufweisen. Doch auch bei diesen Arten liegt der Verwandtschaftsgrad innerhalb eines Sozialgebildes so hoch, dass weitgehende Kooperation möglich ist. Typisch sind sterile Kasten wie die Arbeiterameisen, die komplett auf eigene Fortpflanzung verzichten, um ihre Energie ohne Murren und Knurren und bis zur Selbstaufopferung dem Wohl der Gesamtheit darbringen. Ein feuchter Traum für Politiker.

Im Gegensatz dazu ist bei Wirbeltieren die genetische Verwandtschaft sehr varia­bel. Das gilt auch für die allermeisten Säugetiere. Und hierher gehört ohne Zweifel der Mensch. In diesen Sozialverbänden steht der Einzelne in einem Spannungsfeld zwischen Rivalität und Altruismus. Das Interesse konzentriert sich zunächst einmal aufs eigene Wohl, dann auf die nächsten Verwandten und den Sexualpartner. Da aus dieser Perspektive die Interessen der anderen zweitrangig scheinen, sind Konflikte program­miert. Und deshalb besteht in diesen Gruppen neben Kooperation auch eine ständige Konkurrenz um Ressourcen und sozialen Rang – um Dominanz, wie Biologen es nennen.

Und diese Konkurrenz hat es in sich. Zehn Prozent aller männlichen Hirsche sterben bei Rivalen­käm­pfen um die Spitze der Hierarchie (7). Ein Blick in die menschliche Vorgeschichte verrät, dass es dort nicht besser aussah. Im Gegenteil. Von so gut wie allen vor­staatlichen Gesell­schaften sind uns kriege­rische Ausein­ander­set­zun­gen bekannt. Anhand archäologischer Belege (Verlet­zungs­­spu­ren am Skelett) und präzisen ethnographi­schen Berichten errechnet der Wirtschafts- und Evolutions­theoretiker Samuel Bowles, dass in seiner Stichprobe aus 23 vormodernen Kulturen der letzten 16.000 Jahre im Durchschnitt 14% aller Todes­fälle auf kriegerische Konflikte zurück­zu­füh­ren sind (8). Oder um es in einem Satz zu sagen: Im Vergleich zur Staatsqualle stellt der Mensch als Säugetier einen krassen, manchmal sogar ausgesprochen gefährlichen Einzelgänger dar.

Wie also ist es möglich, dass ausgerechnet dieses Wesen so sehr der Faszination der großen Vereinigung anheimfällt? Die abschließende Antwort muss ich offen lassen. Zumindest aber lässt sich ein Bündel von evolutionär erworbenen Eigenschaften ans Tageslicht bringen, die hier Pate gestanden haben dürften. Wobei es natürlich alles andere als ausgeschlossen ist, dass sie ineinander greifen.

 

So jung und schon egozentrisch

Als zweckmäßig erweist es sich zunächst, von der nicht allzu kühnen Hypothese auszugehen, dass sich diese Faszination auf zwei Hauptbestandteile herunter­brechen lässt: Das Bedürfnis, psychische Barrieren niederzureißen plus das Verlangen dazuzugehören.

Erstaunlicherweise stellen Individualität und psychische Grenzziehung Dinge dar, die wir erst lernen müssen. Die Entwicklungspsychologie konnte nachweisen, dass Kinder schon im frühesten Alter stark von den Stimmungs­signalen der Mutter beeinflusst werden. Umgekehrt zeigen andere Experimente (zum Beispiel mit Spiegeln oder in der Interaktion mit vertrauten Menschen), dass Kinder erst im Alter von ungefähr 18 Monaten ein Konzept fürs eigene Selbst und für die personelle Identität von anderen ent­wickeln. Vorher scheint die Mutter das Kind eher wie ein allgegenwärtiges Fluidum zu durchdringen. Das Ich nimmt erst nach und nach als abgegrenzter Bereich inner­halb eines gestaltlosen Chaos Gestalt an (9).

Der Psychologe und Verhaltensforscher Norbert Bischoff sieht in diesem Urerlebnis die Quelle für viele Ursprungsmythen, in denen sich die Welt, wie wir sie kennen,  mühsam aus dem Chaos herausschält. Indem er eine ganze Reihe von Argumenten heranzieht – von Kinderzeichnungen bis hin bis zur Mythenanalyse – erhält seine Deutung erhebliche Plausibilität.

Wenn die Ausbildung der Individualität auch so ziemlich genau das Gegenteil zur Verschmelzung darstellt, können wir zumindest festhalten, dass sie Eingang in die erzählerische Phantasie gefunden hat. Warum sollte es beim Weg zurück nicht genauso möglich sein? Damit soll nicht behauptet werden, dass die Mutter-Kind-Dyade den alleinigen Ursprung des Verschmelzungstopos bildet, aber als mögliche Kandidatin ist sie schon ein heißer Tipp.

Um ein ähnliches Phänomen handelt es sich, was sich bei etwas älteren Kindern beobachten lässt und das der Evolutionspsychologe Bruce M. Hood kindliche Egozentrik nennt (10).

Kleine Kinder haben Schwierigkeiten, eigene und fremde Gedanken auseinander zu halten. Einerseits sind sie der Meinung, dass man ihre Gedanken hören kann. Kommt ihnen eine Idee, glauben sie, dass alle anderen denselben Geistesblitz haben. Außerdem ist ihr Weltbild noch sehr magisch. Sie glauben nicht nur an Zaubertricks, die ihnen vorgeführt werden, sondern auch, dass sie ihre Umwelt durch reines Wünschen ändern können.

Hood selber sieht in diesem Denkstil übrigens die Grundlage für den Erwachse­nenglauben an paranormale Phänomene wie Telepathie und Telekinese.

Mir ist nicht bekannt, ob diese kindliche Egozentrik einen Vorteil an sich darstellt, der von der Evolution begünstigt wurde, oder ob es sich schlicht um ein entwicklungs­bedingtes „kognitives Defizit“ handelt – vergleichbar damit, dass wir in den ersten Lebensjahren ja auch noch nicht laufen können. Zu bedenken geben möchte ich allerdings, dass das Menschenkind – auch noch im Vergleich zu Menschenaffen – ziemlich unreif und unselbstständig auf die Welt kommt. Dadurch ist es länger und umfassender auf eine symbiotische Beziehung mit der Mutter angewiesen. Und für diese Situation dürfte kindliche Egozentrik, die keine scharfen Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich zieht, einen durchaus passenden Mindset abgeben.

 

In den Schuhen des anderen

Im späteren Leben lernen wir natürlich, dass meine Gedanken nur mir gehören. Gleichzeitig aber reifen andere Fähigkeiten in uns heran, die die Membran zwischen dem Selbst und dem Anderen durchlässiger machen. Wenn der Mensch auch ein knorriges Säugetier ist, verlief seine Evolution in eine Richtung, die so manche Säugetiertradition auf den Kopf stellte.

Tatsächlich besteht unsere Art zu leben in einem Umfang, der auch die Menschen­affen deklas­siert, in der Kooperation, im Austausch. Für die Lebens­weise des Jägers und Sammlers, die für unsere Spezies über Jahrhundert­tausen­de hinweg typisch war, bedeutet Teilen eine Frage von Leben und Tod. Dies wurde in Studien an indianischen Wildbeutern eindrucksvoll bestätigt. Bei ihnen schafft es eine Familie im Durchschnitt alle vier Tage nicht, die Nahrungsmindestmenge aufzubringen (1000 Kalorien pro Kopf) – vor allem wegen des schwankenden Erfolgs bei der Jagd. Da man sich zwischen den Familien jedoch ständig gegenseitig aushilft, muss ein Indianer nur ungefähr einmal im Monat hungrig bleiben (11).

Diesem Austausch von Gütern und Hand­lun­gen ist gewissermaßen ein Austausch von Gefühlen vorgeschaltet. Wir kennen Mitleid und Hilfs­bereit­schaft, gleichzeitig aber auch Dankbarkeit dafür. Ständig rech­nen wir mit den möglichen Reaktionen der anderen. Wir kennen Rück­sichtnahme, Scham und Schuldgefühle, die uns von sozial­feind­lichen Handlungen abhalten und uns damit vor Bestrafung oder dem Aus­schluss aus der Gruppe bewahren (12).

Eng verbunden mit dieser Form des sozialen Austauschs ist die Fähigkeit, sich ständig in andere Menschen hineinzuversetzen – in ihre Gedanken und Empfin­dun­gen. Was denkt er jetzt, was fühlt er? Und was würde er denken, fühlen oder unternehmen, wenn ich dies und das täte? Mittlerweile können diese Prozesse sogar bis ins Gehirn hinein verfolgt werden. Dort wurden spezielle Nerven­zellen, Neuronen, identifiziert, die aktiv sind, wenn wir Handlungen ausführen – wie etwa dem Greifen nach einer Frucht. Diese Zellen sind nicht direkt mit den Muskeln verbunden, sondern kontrollieren ver­mut­­­lich diejenigen Nerven, die Befehle zu den Muskelfasern senden. Interessan­ter­weise feuern diese Kontroll­zellen auch, wenn wir uns die Handlung nur vorstellen. Noch faszinie­render ist die Erkennt­nis, dass diese Zellen sogar dann aktiv werden, wenn wir entsprechen­de Bewegungen bei anderen wahr­nehmen. Deshalb werden sie auch Spiegel­neuronen genannt. Auf ihr Wirken ist es zurückzu­führen, dass wir gähnen, wenn jemand in unserer Umgebung gähnt. Oder wenn wir durch das Lachen anderer angesteckt werden (13).

Gern nennen wir das Imitieren von anderen Leuten „Nachäffen“. Viel treffender wäre aber die Bezeichnung „Nachmenschen“, denn in den Worten von Rizzolatti, einem der Entdecker der Spiegelneuronen: „Das Nachahmungstalent der Tieraffen ist dürftig. Selbst das der Menschenaffen hat seine Grenzen. Erst beim Menschen gewinnt es enorme Bedeu­tung“ (14).

 

Wort, Satz und Sieg

Daneben existiert ein weiterer Vernetzungsmechanismus, der zu alltäglich ist, als dass man sich oft den Kopf darüber zerbricht: Die menschliche Sprache.

Tierische Kommunikation beschränkt sich weitgehend auf Mitteilungen des „Sprechers“ über eigene Motivations- und Gefühlslagen: Knurr, knurr, wauwau, Schwanzwedel. Informationen über die Welt da draußen sind in diesem Kommunikationssystem kaum vorgesehen. Im Gegensatz dazu wird mit einer Aussage wie „Rom, die italienische Hauptstadt an den Ufern des Tibers, zählt um die drei Millionen Einwohner“ beachtlich viel Information von einem Kopf in den anderen transportiert.

Noch breiter fächert sich der Informationsstrom auf, wenn sprachliche Äußerungen auf die Empathie des Empfängers zielen. Mit einem Satz wie „Ich verachte ihn nicht. Eher tut er mir Leid in seiner Kleinlichkeit“ wird der Zuhörer zum Nachfühlen eingeladen, was einem normalen Menschen ja auch bemerkenswert gut gelingt.

Horizontverschmelzung ist ein Begriff aus der Literaturwissenschaft. Er beschreibt den Vorgang, in dem ein Leser bei der Lektüre oder beim Versuch der Deutung immer weiter in die Gedankenwelt des Autors vordringt (15). Meiner Meinung nach kann damit aber auch sehr passend beschrieben werden, was jeden Tag in Alltagsgesprächen geschieht: Das Ausrollen eines ausgedehnten gemeinsamen Bodens an Fakten, Wissen und Gefühlen.

Kindliche Egozentrik, Empathie, Sprache – an diesen Beispielen wird deutlich, dass Menschen keine isolierten Billardkugeln sind, die gelegentlich einmal zusammen­stoßen. Sondern Wesen, deren Lebensstil in Kooperation besteht und die in der Lage sind, sich in erstaunlichem Umfang aufeinander einzuschwingen. Aus dieser Perspektive ist es gar nicht mehr so verwunderlich, dass sich Verschmelzung zur attraktiven Utopie mausern konnte.

Und damit sind wir noch längst nicht am Ende der Geschichte angekommen. Bisher haben wir Dinge besprochen, die eher in die Kategorie „psychische Grenzen überwinden“ gehören. Wie sieht es aber mit dem Drang aus dazuzugehören?

 

Familienmenschen

Aus biologischer Sicht stellt die Verwandtengruppe die ursprünglichste Gemeinschaft dar. Durch gemeinsame Abstammung teilen sich Verwandte einen Vorrat an Genkopien. Wer einem Verwandten hilft, hilft also auch immer ein Stück weit sich selber. Für Nichtverwandte gilt diese Logik nicht. Daher sollte es die Evolution so eingerichtet haben, dass Verwandte bevorzugt werden.

Entwickelt wurde dieses Konzept der Verwandtenselektion ursprünglich an Tier­beobach­tungen und aus theoretischen Überlegungen. Aber auch beim Menschen lässt sich ihrem Wirken auf vielfältige Weise nachspüren.

Forscht man zu Fragen wie „Wer hilft wem in Lebenskrisen?“, „Wer rettet wen bei Katastrophen?“ oder „Wer vererbt wem den Löwenanteil (außer dem Pflichtteil)?“, wird regelmäßig offenbar, dass Blut um einiges dicker ist als Wasser (16). Umgekehrt richtet sich schwere Gewalt selten gegen enge Verwandte (17).

Nun funktioniert diese Form der Selektion nicht automatisch, sondern setzt voraus, dass Verwandte in Gruppen leben und sich nicht in alle Winde verstreuen. Außerdem sind Mechanismen der Verwandtenerkennung notwendig. Wie beim Menschen. Im Gegensatz zu den Schimpansen bildet unsere Spezies feste Paare, die über Jahre zusammenleben. In bescheidenem Umfang beteiligt sich der Mann sogar an der Kinderaufzucht. Auf diese Weise kennt ein Kind meist nicht nur seinen Vater, sondern darüber hinaus dessen Verwandte. Das sind Voraussetzungen, bei denen Verwandtenselektion besonders wirksam ansetzen und eine wichtige Rolle übernehmen kann (18)

Damit hängt wahrscheinlich auch zusammen, dass Verwandtschaft in alter Zeit das wichtigste Organisationsprinzip bildete. Bevor es Staaten gab, gab es Sippen, Clans und Lineages, in denen über Rechte und Pflichten des Einzelnen entschieden wurde. Noch heute lässt sich dieses Prinzip in einfachen Kulturen beobachten.

Typisch für sie ist z.B. auch, dass die Mitglieder einer Lineage oder eines Clans ihre Abstam­mung auf einen gemeinsamen Vorfahren (common ancestor) zurückführen (19). In kleineren Lineages handelt es sich oft um eine reale Person, die sich einige Generationen in die Vergangenheit zurückverfolgen lässt, in größeren Clans nimmt sie jedoch eher die Gestalt eines mythischen Wesens an (20).

Das kann so weit gehen, dass ihr eine zentrale Rolle in der göttlichen Ordnung zugewie­sen wird. Bei der japanischen Sonnengöttin Amaterasu beispielsweise handelt es sich ursprünglich um den common ancestor des Yamato-Clans, doch dann kletterte sie die Karriereleiter hinauf bis zur Nationalgöttin, von der sich das gesamte japanische Volk herleiten kann (21). Man sieht: Die Grenzen zwischen Verwandtschaft und Religion sind bisweilen ziemlich verschwurbelt.

Ein so bedeutendes Thema durfte natürlich auch von der Literatur nicht links liegen gelassen werden. Wie beglückend der Moment, wenn der Held einer Geschichte in einem anderen Menschen den Verwandten entdeckt! Bei der Suche nach der eigenen Blutlinie dürfte es sich um den absoluten Uraltplot handeln. Schon in der Odyssee macht sich Telemachos auf den Weg, den verschollenen Vater Odysseus zu suchen. Ebenfalls aus der Antike stammt eine Erzählung von Plautus, in der ein reicher römischer Herr anhand eines Ringes erkennt, dass eine Sklavin in Wahrheit seine Schwester ist. Bis in die neuesten Kitschklamotten hinein werden Geschichten über Geschwister recycelt, die von Geburt an getrennt wurden und sich am Ende glücklich in die Arme fallen.

Um das Bild noch einmal aufzugreifen: Wie es aussieht, sind Menschen alles andere als isolierte Billardkugeln. Wahrscheinlicher ist, dass uns die Evolution eine starke Sehnsucht nach der harmonischen Gemeinschaft von Verwandten eingepflanzt hat.  Keine schlechte Voraussetzung, um an der Verschmelzungsidee Gefallen zu finden.

 

Der Konformismus, bei dem man mit muss

Ganz unabhängig vom Grad der Verwandtschaft gibt es weitere psychische Kräfte, die uns an die Gruppe ketten. Kräfte, die uns dazu bewegen, der Gruppennorm entsprechend zu denken, zu sprechen und zu handeln. Die Rede ist von unserer Neigung zum Konformismus – die geradezu freudige Bereitschaft, sich dem Gruppendruck zu unterwerfen.

Den Evolutionsforschern Boyd und Richerson zufolge handelt es sich bei diesem Herdentrieb um ein angeborenes Muster, das sich mit logischer Zwangsläufigkeit entwickelt hat. Denn wer sich nach der Gruppenmehrheit richtet, steht meistens auf der richtigen Seite.

Um das an einem etwas unrealistischen Beispiel zu verdeutlichen: Stellen wir uns einmal vor, dass es zu Beginn zwei gleich häufige Reaktionsweisen auf Regen gibt. Die einen greifen zum Regenschirm, die anderen stolzieren mit freiem Oberkörper in den Wolkenbruch. Von denen werden allerdings viele spätestens nach dem ersten Schnupfen ins Regenschirmlager überlaufen. Regenschirmtragen setzt sich also immer mehr durch – und damit das klügere Verhalten. Da sich dieses Prinzip auf eine Vielzahl von Beispielen ausweiten lässt, erhält man eine nützliche Faustformel: Beim häufigsten Verhalten handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch um das vernünftigste. Und daraus folgt: Wer die Gruppenmehrheit kopiert, hat ziemlich gute Aussichten, das Richtige zu tun (22).

Wie stark diese Tendenz in unsere Psyche eingreifen und welch absurde Folgen sie haben kann, wurde in einem mittlerweile klassischen psychologischen Experiment nachgewiesen: Der Versuchsperson wurde ein Blatt Papier vorgelegt, auf dem zwei deutlich unter­schiedlich lange Linien abgebildet waren. Ein Unterschied, den der Proband mühelos erkannte. Dann aber betrat eine Gruppe von Leuten den Raum, die vorher vom Versuchsleiter angeleitet worden waren. Und so behaupteten sie unisono, dass die Linien gleich lang seien. Nachdem die Versuchsperson eine Zeitlang derart bearbeitet worden war, forderte man sie zu einer zweiten Bewertung auf. Und siehe da –  ein Drittel aller Versuchsteilnehmer war jetzt der Meinung, dass die Linien von gleicher Länge seien. Nun könnte man denken, dass dieser Meinungs­umschwung um des lieben Friedens willen nur vorgetäuscht war – ganz nach dem Motto: „Der Klügere gibt nach“. Aber so einfach ist es nicht. Denn als die Probanden wieder allein waren und eine dritte Schätzung abgeben sollten, beharrten sie auf der Meinung, die Linien seien gleich (23).

Verschärft wird der Zug zum Konformismus durch einen weiteren Umstand. Nicht nur der Einzelne hegt das Bedürfnis, gleichphasig zur Gruppe zu sein. Umgekehrt herrscht im Kollektiv eine starke Tendenz, überstehende Nägel einzuhauen. Außenseiterreaktion nennen es die Biologen, die dieses Verhalten bei vielen Tierarten beobachten konnten. Oft reicht es schon, ein Tier mit einem ungewöhn­lichen Farbklecks zu markieren, um bei Artangehörigen aggressives Ausschluss­verhalten zu provozieren. Dieselbe Reaktion lässt sich in den verschiedensten menschlichen Kulturen nachweisen. Zum einen können körperliche Besonderheiten die Ursache sein – so sind beispielsweise Albinos kulturübergreifender Diskriminie­rung ausgesetzt. Noch heftiger fällt die Reaktion aber bei Verhaltensauffälligkeiten aus (24).

Im Doppelpack können Konformismus und Außenseiterreaktion der Gruppe einen durchaus bedrohlichen Anstrich verleihen – indem sie als unwiderstehliche Macht erscheint, die Individualität und Autonomie erschüttert. Die Vorstellung, von so einem Monstrum verschlungen zu werden, ist alles andere als gemütlich. Die Wirkung eines Films wie die „Körperfresser“ basiert nicht zuletzt auf dem angstbesetzten Erlebnis, wie das Ich den Boden unter den Füßen verliert. Das ist die dunkle Seite der Verschmelzung, die in der Phantastik eine prominente Rolle spielt.

In der anderen Waagschale liegt die Faszination, die engen Grenzen der individuellen Persönlichkeit zu überwinden. Wie wir gesehen haben, stellt der Mensch ein recht absonderliches Säugetier dar, das bereits auf verschiedenen Pfaden in diese Richtung vorgestoßen ist. Erwähnenswert z.B. auch die Lust an Symbolen und Uniformierung oder die Gleichtakt erzeugende Wirkung von Musik und Ritualen. Auch sie haben ihre eigene evolutionäre Geschichte, auch wenn hier aus Platzgründen nicht näher darauf eingegangen werden kann.

Sachliche Gründe mögen dagegen sprechen, dass es die totale Verschmelzung jemals geben wird: Aber offensichtlich ist der Mensch auf eine Weise gestrickt, die sie als erstrebenswertes Ideal erscheinen lässt.

 

 

 

1: http://www.parquepuntadevacas.net/Producciones/Madeleine_John/­Die_Hierogamie_in_Sumer.pdf

2: https://de.wikipedia.org/wiki/Mystische_Hochzeit

3: Gözen, Jiré Emine (2012): Cyberpunk Science Fiction. Bielefeld.

4) Wagner, Thomas (2017): Das Netz in unsere Hand! Köln.

5) Fischbach, Rainer (2017): Die schöne Utopie. Köln.

6) Wilson, E. O. (1975): Sociobiology – The new synthesis. Cambridge, Ma.

7) Watson, Lyall (1996): Dark Nature. A Natural History of Evil. London.

8) Bowles, Samuel et al. (2009): Did Warfare Among Ancestral Hunter-Gatherers Affect the Evolution of Human Social Behaviors? In: Science Vol. 324. S. 1293-1298.

9) Bischof, Norbert (2004): Das Kraftfeld der Mythen. 3. Auflage. München.

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