Jugendliteratur im anthropologischen Realitätscheck
100 Kronen lobt der Zirkusdirektor demjenigen aus, der den starken Adolf, den stärksten Mann der Welt, besiegt. „Aber ich bin das stärkste Mädchen der Welt!“ Mit diesen historischen Worten nimmt Pippi Langstrumpf die Challenge an, zerlegt das Ego des Hünen in kleine Stückchen und schleppt ihn zum Schluss auch noch am ausgestreckten Arm in der Manege herum.
Was lehrt uns das? Dass das stärkste Mädchen der Welt (9 Jahre) stärker ist als der stärkste Mann? Ist das denn glaubwürdig? Was sagt die Wissenschaft dazu?
Tja, im Grunde muss sie schweigen. Denn exakte Kraftmessungen an Pippi liegen nicht vor. Hier muss man sich mit Wahrscheinlichkeits-erwägungen behelfen.
Nun steht für die Kraftmessung ein recht einfaches Instrument zur Verfügung: Das Dynamometer. Zwar gibt es das in verschiedenen Ausführungen, aber oft handelt es sich um ein kleines, winkelförmiges Gerät mit zwei Griffen, die in der Faust zusammengedrückt werden. Die Kraft wird dabei in Kilogramm gemessen. Schließlich kann man sich ja auch vorstellen, dass ein Gewicht auf den Griffen lastet, das sie aufeinander zuschiebt. Da Rechts- und Linkshänder unterschiedliche Lieblingshände haben, werden die Ergebnisse beider Hände zusammengezählt. So wird niemand benachteiligt.
Die Griffstärke steht mit der übrigen Kraft im Oberkörper in engem Zusammenhang. Schon mit dieser simplen Methode lässt sich Körperkraft also recht genau messen.
Und gemessen wurde zuhauf. In der unteren Grafik hat die US-amerikanische Gesundheitsbehörde unzählige Einzelergebnisse in einer Abbildung zusammengefasst. Die beiden durchgehenden Linien stellen die Durchschnittswerte der Geschlechter zum jeweiligen Lebensalter dar (die roten Markierungen sind von mir).
Gut zu erkennen, dass sich Frauen und Männer nicht nur sehr deutlich trennen, sondern sich noch nicht einmal nennenswert überlappen.
Nun steht ja die Behauptung im Raum, Pippi Langstrumpf sei das stärkste Mädchen der Welt. Und wenn ich Pippi sage, dann meine ich ihre Verkörperung durch Inger Nilsson in den schwedischen Filmen aus den späten 60ern. Offengestanden stellt das in meinen Augen eine ziemlich starke Behauptung dar, da diese Pippi ganz schön schmal und schlank ist – geradezu spiddelig, wie der Norddeutsche so treffend sagt. Bei diesem Körperbau würde ich ihr allenfalls durchschnittliche Körperkraft zubilligen. Womit sie in der Grafik Position 1 belegen würde: nicht eben beeindruckend.
Nehmen wir dem Argument zuliebe trotzdem einmal an, sie sei wirklich die Stärkste ihrer Altersklasse. Dann nähme sie Position 2 ein. Bemerkenswerterweise könnte sie damit einer durchschnittlichen erwachsenen Frau schon ziemlichen Ärger machen. Einem Normalmann eher weniger – jedenfalls nicht im brachialen Kräftemessen.
Aber hier ist ja von Durchschnittsmännern überhaupt nicht die Rede, sondern von den echt starken. Zum Beispiel von denen in der Kategorie Strongman – jene Kaventsmänner, die sich mit ihresgleichen im Lkw-Schleppen und Waschmaschinenweitwurf messen.
Mit einem Exemplar dieser Kragenweite dürften wir es in der Grafik auf Position 3 zu tun haben. Dessen Kraftleistung liegt bei ca. 170 Kg, pro Handdruck also im Schnitt bei 85 Kg. Womit wissenschaftlich bewiesen ist, dass man so einem lieber nicht die Hand gibt.
Nach eigener Erfahrung sind Frauen ja sehr pfiffig und lebenspraktisch. Vergessen sollte man auch nicht, dass Waschmaschinenwerfen eine grobe Zweckentfremdung darstellt. Waschmaschinen sind zum Waschen da, andernfalls hießen sie Werfmaschinen. Würde Waschmaschinenbedienen eine eigene Wettkampfdisziplin darstellen, dürfte das Duell der Geschlechter wohl deutlich anders ausfallen. Da es Pippi aber aufs körperliche Kräftemessen angelegt hat, ist das die Elle, an der sie gemessen werden muss. Und dieser Vergleich ergibt … naja, die Grafik dürfte selbsterklärend sein.
Fazit: Aus anthropologischer Sicht bestehen schwerwiegende Gründe, das Werk als fiktional anzusprechen.