Foreshadowing

Vorausdeutung: Der Königstrick der schreibenden Zunft

Im Jurassic Park regiert Murphys Gesetz. Es geht schief, was schief gehen kann. Tyrannosaurus und Konsorten dezimieren das Wachpersonal. Das Sicherheitssystem, das für die elektrischen Schutzzäune zuständig ist, funktioniert nicht mehr, und zu allem Überfluss vermehren sich die Urzeitmonster ungeplant wie die Karnickel (um der zoologischen Systematik etwas Gewalt anzutun). 

Schon werfen sich die Velociraptoren berserkerhaft gegen die halb geöffneten Türen des Vergnügungscenters. Dorthin haben sich die letzten Überlebenden geflüchtet. Es sieht nicht gut aus für unsere Helden. Da aber flitzt ein kleines Mädchen von vielleicht zwölf Jahren an den Computer, knackt in Windeseile den digitalen Code und schafft es, das Sicherheitssystem einschließlich der elektronischen Türschlösser wieder in Gang zu setzen.

Ein äußerst dürftiges Happy End, könnte man meinen. Viel unglaubwürdiger wäre die Geschichte auch nicht, hätte das Mädchen die Dinosaurier in kleine Häschen verzaubert. Aber ganz so unbedarft waren die Macher von „Jurassic Park“ (1993) natürlich nicht. Denn einige Zeit vorher war es zu einem kurzen Dialog zwischen Lex, wie das Mädchen hieß, und ihrem Bruder gekommen. In diesem Wortgeplänkel wies sie die Bezeichnung Computerfreak von sich und wollte viel lieber Hacker genannt werden. Ab jetzt war dem Zuschauer klar: Das Mädel hatte es faustdick hinter den Ohren. Und genau dieser im ersten Moment so unbedeutend wirkende Minidialog machte die Bahn frei für die anschließende Handlung. Denn damit blieb die Story glaubwürdig und logisch in sich geschlossen.

Der Trick bestand darin, der Handlung mit entsprechenden Hinweisen vorzugreifen. Und um diesen Trick geht es hier. Er spielt im Erzählerischen eine kaum zu überschätzende Rolle – sei es als subtile Andeutung, sei es als Wink mit dem Zaunpfahl. Der etwas schwerhändige deutsche Ausdruck für diesen Kunstgriff lautet epische Vorausdeutung; die Angelsachsen machen es sich da einfacher und nennen es schlicht Foreshadowing.

Manchmal dient es einfach dazu, Appetit aufs Kommende zu machen. Bereits in der zweiten Strophe des Nibelungenlieds heißt es über die junge Kriemhild: „Später wurde sie eine schöne Frau; ihretwegen mussten viele Kämpfer ihr Leben verlieren.“ (1)

Autor und Schreibtrainer Marcus Johanus findet diesen Einstieg zwar etwas einfach gestrickt und altbacken (2), aber wer würde dasselbe über den Einstiegssatz von Kleists Michael Kohlhaas sagen? „An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.“

Eine ganze Reihe von Filmen folgen diesem Prinzip, indem sie die chronologische Ordnung aufbrechen und mit einer Szene mitten in der Handlung beginnen, die erst in einer Art Rückblende Sinn ergibt. Zu nennen etwa „Pulp Fiction“ oder „Die üblichen Verdächtigen“.

Die Vorwegnahme kann aber auch indirekter geschehen, indem der Storyhöhepunkt zunächst quasi im Modell durchgespielt wird. In John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ erschießt George den Hund, damit es von keinem Fremden erledigt wird. Später wird er dasselbe mit seinem Kumpel Lennie tun (3).

Noch subtiler können dramatische Ereignisse durch Zeichen in der Natur angekündigt werden – etwa durch einen Wetterumschwung oder einen Sturm. Beispielsweise findet diese Erzählstrategie in Harper Lees „Wer die Nachtigall stört“ Verwendung (4).

Gelegentlich bahnt Foreshadowing auch einfach nur einem Gag den Weg. In „Shaun of the Dead“ lässt sich Ed über seinen Mitbewohner Pete aus, mit dem er sich gerade wieder einmal gestritten hat. „Das nächste Mal, wenn ich ihn sehe, ist er tot.“ Prompt tritt ihm Pete beim nächsten Treff als (Un)Toter entgegen (5).

Wichtig ist Foreshadowing natürlich vor allem dann, wenn es darum geht, eine Geschichte möglichst folgerichtig und logisch kompakt erscheinen zu lassen – wie im „Jurassic Park“.

Als weiteres Beispiel dazu kann die Münsteraner Tatort-Episode „Spargelzeit“ herangezogen werden. Ein junges Mädchen wird entführt und mit verbundenen Augen in einem Auto verschleppt. Später kann sie den Täter, übrigens einen uniformierten Polizisten, am Geruch des Duftsteins im Wagen identifizieren. Auch diese Wendung würde enttäuschend beliebig wirken; wenn besagter Duftstein in einer vorangegangenen Szene nicht betont deutlich am Rückspiegel und sehr zentral im Bild gebaumelt hätte. Außerdem wurde der Täter für eine anscheinend unbedeutende Nebenfigur auffallend oft und lang ins Bild genommen. Zusammengenommen bietet dies dem Zuschauer die Chance auf ein Aha-Erlebnis: „Mensch, ja! Da war doch was!“

Betrachten wir die psychologischen Hintergründe für diese Art von Foreshadowing einmal etwas genauer. Vor allem interessiert hier sozusagen die Kehrseite des Phänomens. Was geschieht, wenn der Erzähler aufs Foreshadowing verzichtet? Wie wir gesehen haben, wäre mit ziemlich negativen Publikumsreaktionen zu rechnen. Verständlich, dass der Autor diesen Eklat fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Aber woher diese Ablehnung? Begeben wir uns also auf die Suche nach dem Geheimnis schlechter Erzählungen.

Dazu ist es sinnvoll, sich anzuschauen, was für ein Wesen der Mensch überhaupt ist. Die Spurensuche reicht weit in unsere Stammesgeschichte zurück. Vor dem Hintergrund der Millionen von Tierspezies, die diesen Planeten bevölkern, hebt sich unsere eigene Art vor allem durchs große Gehirn und eine ins Extrem gesteigerte Lern- und Denkfähigkeit ab.

Vor kurzem habe ich eine Dokumentation über Taucher in tropischen Gewässern gesehen. Immer wieder kamen Haie so bedenklich nah, dass sie mit elektrischen Schockern vertrieben werden mussten. Für ein paar Minuten tat der Stromschlag seine Wirkung, dann aber pirschten sich die Fische erneut heran. Denn mittlerweile hatten sie den unangenehmen Vorfall wieder vergessen.

Tiere mit einem so wenig entwickelten Lern- und Erinnerungsvermögen leben gewissermaßen in einem ewigen „Jetzt“ und sind ganz überwiegend auf ihre Instinkte angewiesen – auf im Gehirn festverdrahtete Verhaltensprogramme, die durch neue Erfahrungen kaum geändert werden können.

Ganz anders der Mensch. Nehmen wir eine alltägliche Situation: Warten an der Bushaltestelle. Das meiste an dieser Szene ist verständlich. Aber dieses Verstehen funktioniert nicht durch den reinen Seheindruck. Was ist ein Auto? Was ist eine Straße? Was ist eine elektronische Fahrplananzeige? Was ist ein Busfahrer? Das ist ein Wissen, das nicht im Netzhautbild enthalten ist, sondern im Vorwissen des Betrachters. Und der muss es sich nicht mühsam erst wieder aus dem Gedächtnis kramen, sondern dieses Wissen ist sofort da und vereinigt sich mit der Wahrnehmung automatisch und mit derartiger Selbstverständlichkeit, dass man kaum je einen Gedanken dran verschwendet. Wir nehmen die Umwelt nicht einfach nur wahr, wir begreifen sie.

Wann diese neue Form der Interaktion mit der Umwelt entstanden ist, lässt sich gar nicht genau sagen. Von den Fischen über Amphibien und Reptilien bis zu den Säugetieren haben Hirngröße und Intelligenz stetig zugenommen. Unter den Säugern sind es – neben den Delfinen – unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, die eine bemerkenswert hohe Intelligenz entwickelten. Doch der Weg vom Affen zum Menschen war nochmals von einer explosionsartigen Hirnvergrößerung begleitet. Eine prägnante Wasserscheide dürfte der Übergang vom Reptil zum Säugetier darstellen. In Hinblick auf Neugier und Lernfähigkeit scheint sich hier eine Art Quantensprung ereignet zu haben (6).

Es liegt auf der Hand, dass ein derartiges Informationshandling große Überlebensvorteile bringt. Voraussetzung ist natürlich eine entsprechende Lernfähigkeit. Und vor allem zunächst einmal die Lust am Lernen. Oft saugen wir Information geradezu begierig auf – sei es, dass wir uns im Urlaub lustvoll neuen Eindrücken hingeben, sei es, dass wir einfach nur stundenlang aus dem Fenster schauen.

Dabei geht es nicht nur ums Erlernen von Einzelphänomenen, von den „Vokabeln“ unserer Umwelt, sondern genauso ums Durchschauen von Mustern, Regelmäßigkeiten, Ursache-Folge-Beziehungen: kurz darum, wie die Dinge funktionieren.

Diese Lust am Entdecken strahlt bis in unser ästhetisches Empfinden aus. Bereits Anfang der Siebziger hat der bekannte Psychologie Dietrich Dörner Experimente dazu durchgeführt. Dabei sollten seine Versuchsteilnehmer Farbmuster innerhalb eines Rasters aus kleinen Quadraten nach ihrer ästhetischen Wirkung beurteilen. Es zeigte sich, dass sehr einfache, „langweilige“ Muster und solche mit komplett chaotischer Struktur als eher unbefriedigend bewertet wurden. Am reizvollsten stellten sich komplexe Muster heraus – Muster von Mustern sozusagen. Als besonders befriedigend wird also empfunden, wenn eine Ordnung existiert, die erst einmal erarbeitet sein will (7).

Auch in der Literatur spielt Mustererkennung eine Rolle. So weist der Literaturwissenschaftler Karl Eibl darauf hin, dass Gedichte ihren Reiz vor allem dadurch erhalten, dass beim Zuhören Rhythmus und Reimschema erkannt werden (8).

Ein anderes Beispiel sind Metaphern. Kennzeichnend für sie ist, dass ein Bild auf ein anderes übertragen wird: Blüte der Jugend, Glut der Leidenschaften, Winter des Missvergnügens. Das Verstehen von Metaphern entspricht einer Erkenntnisleistung, bei der Ähnlichkeiten und Beziehungen zwischen zwei Konzepten aufgedeckt werden. Für den Kommunikationswissenschaftler Charles Forceville und seine Kollegen besteht eben darin ihre hauptsächliche ästhetische Wirkung (9).

Dies gibt der Vermutung Nahrung, dass Mustererkennung auch im Verfolgen einer Erzählhandlung eine Rolle spielt – schließlich gilt es, die Erwartung zu erfüllen, dass alle Elemente der Erzählung am richtigen Platz und in einer logischen Beziehung zueinander stehen.

Fatal nur, wenn diese Erwartung nicht eingelöst wird und sich die Story als unwahrscheinlich und nicht nachvollziehbar entpuppt, während die Logik Bocksprünge vollführt. Das Ganze dürfte mit einer anderen Situation vergleichbar sein: Wenn Psychologen im Experiment ihre Versuchsteilnehmer vor Aufgaben stellen, die extrem schwer zu lösen sind, ist eine Form der Reaktion immer wieder zu beobachten: Die Probanden suchen das Versagen nicht bei sich, sondern richten Wut und Enttäuschung gegen die Versuchsanordnung. Oder sie verdächtigen die Versuchsleiter, in Wahrheit ihre Frustrationsreaktionen erforschen zu wollen (10). Eine ähnliche Kante dürfte dem Erzähler blühen, der schlecht gebaute Geschichten auftischt.

Die Bedeutung der Mustererkennung wird auch aus anderer Richtung gestützt. Der Mediziner und Neurobiologe Thomas Grüter ist der Ansicht, dass wir evolutionär geradezu auf Mustererkennung angelegt sind. Das sei auch der Grund dafür, dass wir oft Muster zu erkennen meinen, wo gar keine vorhanden sind. Grüter sieht in diesem Bedürfnis einen der Hauptgründe für die Beliebtheit von Verschwörungstheorien. Die Rätselhaftigkeiten des Weltgeschehens werden durch einfache, auf dem ersten Blick plausibel erscheinende Geschichten erklärt (11).

Dass es sich bei der Mustererkennung tatsächlich um den entscheidenden Faktor handelt, wird besonders an einer bestimmten Art von Filmen deutlich: An jenem Typ, dem die Amerikaner die vornehme Bezeichnung Mindfuck verliehen haben. Kennzeichnend daran ist, dass der Zuschauer über fast die gesamte Länge des Films auf eine falsche Fährte gelockt wird und die wahren Zusammenhänge erst in den letzten Minuten schockartig klar werden, wobei alle vorangegangenen Vermutungen gewissermaßen auf den Kopf gestellt werden. Beispiele sind etwa The 6th Sense, The Mechanic, The Others oder Shutter Island. 

Nehmen wir einmal The 6th Sense: Dort spielt Bruce Willis einen Kinderpsychologen, der alle Höhen und Tiefen des Berufs durchlebt hat und schon einmal von einem enttäuschten Patienten niedergeschossen wurde. Eines Tages wird ihm der neunjährige Cole vorgestellt, der unter rätselhaften Angstzuständen leidet und von der Vorstellung besessen ist, tote Menschen zu sehen. Während sich die Beziehung zwischen den beiden intensiviert und der Psychologe immer handfestere Hinweise auf ein echtes parapsychisches Talent seines jungen Patienten aufdeckt, entfremdet er sich zusehends von seiner Ehefrau. Die beiden sprechen nicht mehr miteinander. Der Film gipfelt im geradezu wahnwitzigen Dreh, dass Bruce Willis entdeckt, dass er selber schon tot ist.

 Der Film war außerordentlich erfolgreich. Keine Rede davon, dass sich die Zuschauer aufs Glatteis geführt fühlten. Im Gegenteil: Zwar wurden Erwartungen und Vermutungen in kürzester Zeit samt und sonders eingestampft, aber dafür bot der Film ein neues, überraschendes und fein gesponnenes Muster, in dem sich eins zum anderen fügte: Klar, dass die Ehefrau nicht mehr mit ihm sprach – weil sie nicht in der Lage war, seinen Geist wahrzunehmen. Klar, dass er nur noch Kontakt zum kleinen Cole hatte – weil der ja Tote sehen konnte. Auch die Frage, wie er einen so brutalen Anschlag hatte überstehen können, war vom Tisch. Er hatte ihn nicht überstanden.

1) Schulze, Ursula (Hrsg.) (2008): Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch- neuhochdeutsch. München.

2) https://marcusjohanus.wordpress.com/2014/04/05/spannender-schreiben-mit-epischen-vorausdeutungen/

3) http://foreshadowing.org/in-literature.html

4) http://udleditions.cast.org/craft_elm_foreshadowing.html

5) https://filmschoolrejects.com/14-great-moments-of-foreshadowing-in-films-aaf02246729b#.du37szfwy

6) Glickman, S.E. u. Sroges, R.W. (1966): Curiosity in Zoo Animals. Behaviour. Vol 26. Nr. 1.

7) Dörner, D. u. Vehrs, W. (1975): Ästhetische Befriedigung und Unbestimmtheitsreduktion. Psychological Research Nr. 37. S. 321-334.

8) Gene und Goethe. DER SPIEGEL. 2007. Nr. 38. S. 206-207.

9) Forceville, Charles u.a. (2006): The Adaptive Value of Metaphors. In: Klein, U., Mellmann, K., Metzger, S. (Hrsg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Paderborn. S. 85-109.

10) Dörner, Dietrich (2004): Die Logik des Misslingens. Reinbek.

11) Hier ein Focus-Text von Grüter: http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/magisches-denken-warum-menschen-an-uebernatuerliches-glauben-a-706517.html. Und hier bei Scobel in der Diskussion mit Daniele Ganser und Andreas von Bülow: https://www.youtube.com/watch?v=isDq_o7Kc34

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