Auch wenn man es uns nicht sofort ansieht: Evolutionär gesehen sind wir alle Freigelassene der Diktatur.
Wie würden Sie das finden? Sie wollen es sich abends mit Ihrem Partner gemütlich und intim machen, da kommt ihr Chef ins Schlafzimmer gestürmt und treibt Sie auseinander. Weil er der Einzige ist, dem Sex gestattet ist.
Am nächsten Tag sitzen Sie in der Kantine und wollen sich über Ihr wohlverdientes Mahl machen, da schiebt sich wieder Ihr Chef heran und nimmt Ihnen den Teller weg. Ihnen bleibt nur, hilflos die Fäuste in der Tasche zu ballen. Weil der andere schlicht die dickeren Muckis hat, von denen er gern Gebrauch macht.
Überhaupt der Chef: Solange ist er noch gar nicht im Amt. Den Alten hat er kurzerhand um die Ecke gebracht. Dazu noch alle seine Kinder. Um den Witwen schöne neue zu machen.
Mag das auch wie eine absurde Horrorvision wirken – für viele Tierarten ist es Realität. Wo Tiere in Sozialverbänden leben, bilden sich immer wieder Hackordnungen, sogenannte Dominanz-hierarchien, heraus. An ihnen lässt sich die komplette Amoralität der Evolution ablesen. Bestand hat, was Vorteile bringt. Und wenn es das Faustrecht ist.
Ranghohe Schimpansenmännchen hindern jüngere Tiere am Sex, Pavianbosse beanspruchen den ersten und dicksten Brocken an der gemeinsamen Jagdbeute. Ein Löwe, der neuer Anführer des Rudels geworden ist, tötet oft alle Jungtiere – um möglichst schnell möglichst viel eigenen Nachwuchs in die Welt zu setzen.
Wie so oft dürfte auch hier Fortpflanzungserfolg den Schlüssel darstellen. Das ranghöchste Schimpansenmännchen hat ungefähr viermal so viele Nachkommen, wie es der Durchschnittswert erwarten ließe (1). Kein Wunder, dass sich der Drang zu dominieren immer weiter vererbt.
Nichts dürfte einleuchtender sein, als dass es Vorteile bringt, sich zu nehmen, was zu kriegen ist. Allerdings ist so ein Verhalten nicht ohne Risiken. Die Untergeordneten könnten sich wehren – oder es wachsen Konkurrenten mit ähnlich starkem Ego heran. Womit Zweikämpfe unausweichlich werden. Außerdem wurde beobachtet, dass Alphatiere durch hohe Stress- und Sexualhormonpegel oft derart unter Dauerstrom stehen, dass sie schneller altern und sterben. Trotzdem: Wo immer solche Systeme Fuß gefasst haben, müssen die Vorteile der Dominanz die Kosten überwogen haben.
Absolutes Menschsein
Aber warum irritieren uns diese Szenarien so? Sind wir etwa anders? Mittlerweile wird das von evolutionären Psychologen bejaht. Dazu führen sie eine ganze Reihe von Experimenten und Beobachtungen ins Feld, die alle darauf hindeuten, dass wir ziemlich speziell gestrickt sind – deutlich weniger dem Alphatier hörig und auf Gleichheit eingeschworen.
In einem dieser Experimente wurden Versuchspersonen vor die Wahl gestellt: Entweder zogen sie aus einem Automaten ein Getränk nur für sich allein – oder sie erhielten dasselbe Getränk, wobei für den Nachbarn automatisch ebenfalls eine Erfrischung heraussprang. So gut wie immer wurde die hilfsbereite Variante gewählt. Schimpansen zeigten in derselben Situation nicht das geringste Interesse für die Belange ihrer Artgenossen, obwohl sie erwiesenermaßen intelligent genug sind, um solche Versuchsanordnungen zu verstehen (2).
Noch bemerkenswertere Akte des Altruismus lassen sich im Alltag beobachten. Menschen spenden nicht nur Blut in einem Umfang, der Kliniken und Blutbanken problemlos am Laufen hält, sondern sie spenden auch Geld für Katastrophenopfer in einem Land, das tausende von Kilometern entfernt ist – und das ohne Aussicht auf irgendeine Gegenleistung. Ein Verhalten, das sich mit den gängigen Theorien der Evolutionsbiologie nicht wirklich erklären lässt.
Zu dieser ausgeprägt sozialen Orientierung passt, dass der Mensch ein echter Champion darin ist, sich in die Gefühle eines anderen hinein zu versetzen. Was unter anderem dazu führt, dass Lachen, Weinen oder auch Gähnen hochgradig ansteckend wirken können. In den „Nachttieren“ hatte ich das so beschrieben: Wie weit der Mensch im Vergleich zu anderen Säugetieren auf diesem Gebiet vorgestoßen ist, lässt sich an einem kleinen Beispiel deutlich machen: Wenn wir beobachten, wie sich jemand mit dem Messer in den Finger schneidet, verziehen wir das Gesicht, als ob wir selber Schmerzen hätten. Einen Hund wird dieser Vorfall ziemlich kalt lassen. Wahrscheinlich schnuppert er am ehesten noch am Blutfleck auf dem Boden oder leckt ihn sogar auf.
Andere Forschungen lassen darauf schließen, dass der Mensch über einen angeborenen Gerechtigkeitssinn verfügt. Geradezu eisern klammern sich kleine Kinder in Experimenten am Prinzip des fairen Teilens (3).
Eine andere Eigenheit unserer Spezies ist nicht gerade unauffällig, dennoch so vertraut und allgegenwärtig, dass man nicht auf Anhieb darüber stolpert, welche evolutionäre Bedeutung sich dahinter verbirgt: Unsere Neigung, vor Scham zu erröten. Dabei handelt es sich um eine angeborene, nicht zu unterdrückende Körperreaktion – die es nur beim Menschen gibt. Sie stellt die sichtbare Außenseite unseres Gewissens dar. Viele egoistische Handlungen unterlassen wir nicht nur, weil wir uns vor Strafe fürchten. Sondern weil es in unserer Psyche eine Instanz, einen inneren Wächter gibt, der uns sagt, was falsch und richtig ist. Diese Instanz bildet sich dort heraus, wo wir die Regeln der Gesellschaft zu unseren eigenen machen.
Haben auch Tiere ein Gewissen? Nun ist es ziemlich schwierig, in deren Köpfe zu schauen. Aber betrachtet man beispielsweise die Verhaltensunterschiede in Situationen, in denen sich Tiere beobachtet oder unbeobachtet fühlen, dann liegt der Schluss nah, dass sie vor allem durch Angst vor Bestrafung geleitet werden und weniger durch moralische Hemmungen. Außerdem erröten sie nicht (4).

Es geschah am hellichten Tag
Mag uns selber manchmal das Gewissen in den Arm fallen – gern hindern wir auch andere. Unsere Neigung, unsoziales Verhalten zu bestrafen, ist sogar ziemlich stark ausgeprägt. Natürlich gibt es auch dazu das passende Experiment.
In einer Spielsituation legten Testpersonen ihre Münzen in einem „Gruppenfond“ an, der – versehen mit einem Zinsaufschlag – am Ende der Runde an alle Teilnehmer zu gleichen Anteilen wieder ausgezahlt wurde. Allerdings hatten die Testpersonen die Möglichkeit zu schummeln, indem sie kein eigenes Geld einsetzten und trotzdem von der Ausschüttung profitierten. Umgekehrt hatten alle Spieler die Möglichkeit, Schummler zu bestrafen, indem denen bei einem Betrugsversuch Geld abgezogen wurde. Der Haken an der Sache: Wer eine Bestrafung veranlasste, musste dafür selber eine Gebühr entrichten. Dennoch wurden Betrüger ungeachtet aller Kosten unnachgiebig zurechtgestutzt (5). Hier taucht dasselbe Fragezeichen auf wie bei Spenden für Unbekannte. Wie kann sich ein Verhalten, das nur anderen hilft und einem selber Kosten verursacht, in der Evolution durchsetzen?
Wie ungewöhnlich systematisches Bestrafen ist, zeigt sich, wenn andere Tierarten in den Blick genommen werden, Schimpansen zum Beispiel. Sehr instruktiv sind Freilandbeobachtungen an zwei Weibchen, die mehrfach, davon dreimal erfolgreich, versucht hatten, die Babys anderer Mütter zu töten. Die einzige erkennbare Reaktion der übrigen Gruppenmitglieder bestand darin, dass sie den Übeltäterinnen für eine Zeit lang mit erhöhter Scheu und Vorsicht begegneten. Aber zu keinem Zeitpunkt gab es den geringsten Versuch, die Tiere aus der Horde auszuschließen (6).
Vor diesem Hintergrund erscheinen einige Dinge in anderem Licht. Im Spielfilm „Es geschah am helllichten Tag“ gibt es diese bemerkenswerte Szene mit dem Hausierer, der unter Verdacht steht, ein kleines Mädchen ermordet zu haben, und nun in der Dorfschenke von der Polizei festgehalten wird. Langsam und bedrohlich erheben sich die Bauern an ihren Tischen und drängen sich Schritt um Schritt näher an ihn heran – offensichtlich in der Absicht, die Rechtspflege in die eigenen Hände zu nehmen. In allerletzter Sekunde kann Heinz Rühmann alias Kommissar Mathäi dazwischen gehen.
Sollte hier wohl auch suggeriert werden, wie das dumpfe Landvolk in barbarische, primitive Traditionen der Lynchjustiz zurückfiel, müsste es aus evolutionärer Perspektive allerdings ohne Wenn und Aber als progressives Verhalten gewertet werden.
Nicht mit Bestrafen, aber doch mit öffentlichen Reaktionen befasste sich der Psychologe Norman Feather. Unter „Tall Poppies“ versteht man im englischen Sprachraum jene Celebrity-Ikonen, deren Erfolgsstories die Massenmedien zum Überquellen bringen. Feather versuchte in Befragungen herauszufinden, wie die Reaktionen des Publikums ausfielen, wenn so ein Tall Poppy einen empfindlichen Karriereknick hinnehmen musste. Die Ergebnisse unterschieden sich von Fall zu Fall, doch eine Reaktion war ziemlich durchgängig: Schadenfreude (7).
Alles in allem erscheint der Mensch als ausgesprochen soziales Wesen, das unter Umständen zu erheblichem Altruismus fähig ist, auf Gleichheit und Gerechtigkeit pocht und gleichzeitig dazu neigt, Verbrechern, Betrügern und Überfliegern die Flügel zu stutzen. Im Kontext der übrigen Säugetiere, besonders auch unserer Affenver-wandtschaft, eine höchst rätselhafte Merkmalskombination, wie wir gesehen haben.
Langfristige Kontoführung
Christopher Boehm, ein US-Amerikaner, der in kultureller wie evolutionärer Anthropologie gleichermaßen zu Hause ist, hat den Versuch unternommen, das Ganze in einem umfassenden Evolutionsszenario zusammenzufassen (4).
Dazu stellte er aus der völkerkundlichen Literatur eine Liste von ungefähr 50 Jäger-und-Sammler-Kulturen zusammen, die noch am ehesten den Verhältnissen unserer steinzeitlichen Vergangenheit entsprechen dürften.
In allen untersuchten Völkern bildet die gemeinsame Jagd auf großes Wild einen wichtigen Part bei der Ernährung. Besonders auffallend, dass die Beute gerecht auf alle Familien verteilt wird, was meistens ziemlich reibungslos vonstatten geht. Alphatier-Allüren, die dazu verleiten, die größten Happen für sich zu beanspruchen, hätten hier keine Chance.
Überhaupt zeichnen sich diese Gesellschaften durch weitgehende Gleichheit aus. Echte Ränge gibt es nicht, höchstens Unterschiede im persönlichen Prestige. Was sich auch daran zeigt, dass jedem männlichen Erwachsenen die Chance auf langfristige Paarbindung offensteht. Nur eben, dass besonders angesehene und erfolgreiche Jäger mehr als eine Frau haben können.
Bemerkenswert auch, mit welchem Nachdruck von allen Gruppen-mitgliedern sozial orientiertes Verhalten eingefordert wird. Zunächst einmal durch Klatsch und Tratsch, der wie eine perfekte Überwachungskamera wirkt. Aller Wahrscheinlichkeit nach gerät jeder irgendwann einmal auf die Tagesordnung, problematische Persönlichkeiten aber sicherlich besonders oft. Die weiteren Eskalationsstufen bilden öffentliche frontale Kritik und Beschämung, zeitweise Verbannung aus der Gruppe, endgültiges Verstoßen und als letztes Mittel Todesstrafe.
Tatsächlich konnte Boehm eine ganze Reihe von Beispielen finden, bei denen sich Gruppenmitglieder zusammenschlossen, um jemanden aus ihrer Horde vom Leben zum Tode zu befördern. Dabei handelte es sich nicht nur um Individuen, die unkontrolliert aggressiv und gefährlich waren. Sondern auch um extrem egozentrische und herrische, also um solche, die schlicht zu Alpha waren. Womit sich die Gruppe ziemlich effektiv gegen die Machtansprüche einzelner wehrt. Antihierarchisches Verhalten nennt Boehm das Ganze.
Fragt man jetzt, wie sich dieses betont sozial orientierte Verhalten in der Evolution herausbilden konnte, wird ein Problem besonders akut. Wir sind ihm schon mehrfach begegnet: Wie ist die Neigung zum Altruismus, also zu Hilfsbereitschaft, Teilen und Bescheidenheit möglich?
Eine Lösung bietet sich allerdings an – zumindest in der Theorie. Was, wenn durch altruistische Akte zunächst draufgezahlt wird? Sich aber auf lange Sicht Gewinn daraus ziehen lässt? Etwa dadurch, dass sich die persönliche Reputation immer weiter erhöht und man für soziale Kooperationen oder als Ehepartner besonders attraktiv wird? Für diese Theorie gibt es erstaunlich deutliche empirische Belege.
In Experimenten bevorzugen Spieler solche Partner, von denen sie wissen, dass sie großzügig und hilfsbereit sind. Außerdem gehören Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft zu den wichtigsten Eigenschaften, die sich Frauen und Männer gleichermaßen von ihrem Partner wünschen. Wer altruistisch ist, gibt zwar her – aber gleichzeitig spart er mit diesen Wohltaten immer mehr an gutem Ruf an. Sozusagen auf einem imaginären Renommee-Konto. Auf lange Sicht erntet er Sympathie und soziales Ansehen – und mit ein wenig zeitlicher Verzögerung bessere Chancen im sexuellen Wettbewerb (8).
Direkte Beweise lassen sich sogar in Jäger-und-Sammler-Kulturen finden, die ja als evolutionäres Modell gelten.
Bei den südamerikanischen Aché kommte es immer wieder vor, dass ein Jäger durch Krankheit oder Verletzung für einige Zeit ausfällt. In dieser Zeit wird er von der Gruppe versorgt. Anthropologen konnten beobachten, dass die Unterstützung für Jäger, die als hilfsbereit galten, besonders großzügig ausfiel, während Aché, die im Ruf des Geizes standen, mit eingeschränkter Zuwendung auskommen mussten.
Die Hadza sind ein Volk in Ostafrika, das noch weitgehend traditionell lebt. Unter ihnen führten Anthropologen Befragungen durch, über welche Eigenschaften der Wunschpartner verfügen sollte. Dabei ergab sich: Ein friedlicher, hilfsbereiter und großzügiger Charakter war den Befragten am wichtigsten, noch vor körperlicher Attraktivität.
Die Theorie scheint also einiges für sich zu haben. Wer angeborenermaßen zu besonderer Hilfsbereitschaft neigt, muss sich über den Fortbestand seiner Gene keine allzu großen Sorgen zu machen. Eingebunden in ein eng geknüpfte Kooperationsnetz und als attraktiver Partner hat er sogar gute Chancen, sie bevorzugt zu verbreiten.
Das Bestrafen von antisozialem Verhalten – auch moralische Aggression genannt – lässt sich dabei ebenfalls als Form des Altruismus verstehen. Immerhin dient es der gesamten Gruppe, während der Bestrafer Risiken auf sich nimmt.
Nicht als altruistisch, aber als evolutionär genauso erfolgreich können Klatsch und Tratsch gelten – vorausgesetzt, dass sich bereits so etwas wie Sprache herausgebildet hat. Der Aufwand ist nicht besonders hoch, außerdem halten sich die Risiken aufgrund der schützenden Anonymität in Grenzen. Gleichzeitig werden andere von ihrem hohen Ross geholt. Wer tratscht, verbessert in anderen Worten seine eigene Position im Verhältnis zu anderen.
Wie Boehm an seiner Stichprobe nachweisen konnte, verhielten sich Jäger und Sammler zudem von Zeit zu Zeit äußerst rebellisch. Immer wieder wird in den entsprechenden Berichten erwähnt, wie jemand, der ein zu anmaßendes Bossgehabe an den Tag legte, kurzerhand von der Klippe geworfen oder sonst wie aus dem Verkehr gezogen wurde.
Wer Ziel antihierarchischer Aggression wird, kann seine Gene nicht mehr an die nächste Generation weitergeben. Die Neigung zu Dominanz und Unterdrückung wird in der Gruppe also über kurz oder lang abnehmen.

Warum man lieber nicht mit Gorilla Airlines fliegt
Damit hätten wir den Kern von Boehms Theorie beisammen: Klatsch, Reputationsgewinn durch Altruismus, Bestrafung und antihierarchisches Verhalten fügen sich zu einer bemerkenswerten evolutionären Kraft zusammen, die Boehm als soziale Selektion bezeichnet. Über Jahrhunderttausende hinweg hat sie formend auf die menschliche Psyche eingewirkt.
Unter diesem Selektionsdruck konnte sich echter Altruismus entwickeln – die Neigung zu helfen, auch ohne Gegenleistungen zu verlangen. Hand in Hand mit dieser gesteigerten sozialen Orientierung ging eine Verfeinerung unserer Empathie, der Fähigkeit, sich in die Gefühle eines anderen hineinzuversetzen.
Umgekehrt wurden wir mit dem Bedürfnis ausgestattet, anderen bei Regelverletzungen auf die Finger zu hauen. Von dieser moralischen Aggressivität beseelt, entwickelte sich jeder einzelne zum Wächter über das Wohlverhalten in der Gruppe.
In einer Gesellschaft, die eine so feinmaschige soziale Kontrolle ausübt, ist es sicherlich nicht allzu sinnvoll, ständig anzuecken. Besser, man trägt die Gruppenregeln gleich in sich – womit der Startschuss zur Entwicklung des Gewissens gegeben war. Auch war es vorteilhaft, den anderen durch körperliche Signale zu demonstrieren, dass man über diese spezielle soziale Sensibilität verfügt und einen vertrauenswürdigen Partner abgibt. Eine Funktion, die das Erröten bestens erfüllt.
So überzeugend dieses Szenario auch ist: Eine Frage steht im Raum, die von Boehm nicht explizit behandelt wird. Warum haben sich nicht alle Tierarten so entwickelt? Aber aller Wahrscheinlichkeit nach sind dafür sehr spezielle Voraussetzungen nötig. Auch Orcas, Löwen und Wölfe jagen in Gruppen. Doch ist es schon von der Anatomie her kaum denkbar, dass sie jemals Steinwerkzeuge entwickeln.
Boehms Theorie setzt die Benutzung von Sprache voraus. Allein deren Evolution wäre eine lange Geschichte für sich. Und wenn gesagt wird, dass der Mensch von den afrikanischen Großaffen abstammt, heißt das, dass unsere Vorfahren nicht einfach irgendwelche Tiere waren, sondern die intelligentesten, die jemals auf diesem Planeten lebten (neben den Delfinen).
Sogar noch zu unseren Menschenaffenvorfahren haben sich in den letzten paar Millionen Jahren markante ökologische Veränderungen ergeben. Unsere direkten Vorfahren bewohnten nicht mehr die Wälder oder Waldränder, sondern zunehmend die offene Savanne. Und hier spielte sich ein bemerkenswerter, wenn auch nicht besonders glorioser Wandel der Ernährungsgrundlage ab. Der Mensch wurde zum Aasfresser. Archäologische Spuren machen es wahrscheinlich, dass es der Frühmensch vor allem auf Kadaver großer Tiere wie Elefanten, Rhinozerosse oder Flusspferde abgesehen hatte. Wenn das auch nicht so beeindruckend wirkt wie gemeinschaftliche Großwildjagd, setzt es wesentlich mehr Kooperation voraus als das Früchtepflücken der Großaffen. Zunächst muss die Gruppe über die Fundstelle informiert werden. Als nächstes ist es notwendig, die Beute gemeinschaftlich vor Löwen, Hyänen und Geiern zu verteidigen. Und auch der sichere Abtransport der Einzelteile funktioniert am besten als Gruppenaktion (9).
In einem derartigen Setting dürfte es an Bedeutung gewinnen, die Kooperationsbereitschaft eines Individuums zu beurteilen. Kooperationsfähigkeit wurde zum Attraktivitätsmerkmal. Auf diese Weise geriet der Frühmensch wahrscheinlich immer weiter in die Kooperationsnische hinein.
Vermutlich war dieser Prozess sogar selbstverstärkend. Vor Jahrhunderttausenden schließlich erlangten unsere Vorfahren die Fähigkeit, Großwild zu jagen. Das dürfte den Selektionsdruck in Richtung Kooperation noch weiter erhöht haben. Am Ende dieser Entwicklung steht jenes besondere Wesen Mensch, wie er uns beispielsweise in Gestalt heutiger Jäger und Sammler entgegentritt.
Eine Erwähnung wert sind die Gedanken der bekannten Primatologin Sarah Hrdy. Bei einem ihrer vielen Flüge beobachtete sie wieder einmal ihre Mitreisenden. Was sie sah, war alltäglich und unspektakulär – eine Gruppe fremder Erwachsener, die in einem Linienflugzeug zusammenkamen, sich ohne sonderliche Mühe in ein friedlich-schiedliches Miteinander einfädelten und sich gegenüber Müttern mit kleinen Kindern sogar betont aufmerksam und rücksichtsvoll verhielten. In diesem Moment fragte sie sich, wie es aussähe, wenn es sich nicht um Menschen, sondern um einander fremde Menschenaffen handelte, die in dieser geräumigen Stahlröhre eingeschlossen wären. Sie kam zu dem Schluss, dass sich der Kabinenboden innerhalb von Minuten mit Blut, abgerissenen Körperteilen und Babyleichen bedecken würde (10).
Im Vergleich dazu wirkt die Welt der Jäger und Sammler fast schon wie ein Paradies. Was aber wohl eine zu romantische Sicht wäre. Auch die Wildbeuter kennen Gewalt und Krieg. Und das nicht zu knapp. Außerdem stellt es sicherlich kein Reich unbegrenzter Freiheit dar, wenn man vierundzwanzig Stunden am Tag unter peinlichster Gruppenkontrolle steht. Aber zumindest ist es das Reich der Gleichheit.
Umso erstaunlicher, wie die Geschichte weiterging. Wie war es möglich, dass unsere Spezies mit ihrer egalitären, rebellischen und antihierarchischen DNA Gesellschaften hervorbrachte wie das Alte Ägypten? Mit einer kompletten sozialen Stufenleiter vom gottgleichen Pharao bis runter zum rechtlosen Kriegssklaven? Heute sind Ungleichheit und Hierarchien allgegenwärtig. Aber um an diesem Punkt tiefer zu bohren, ist ein neuer Blog notwendig.
1. Schimpansen
2. Nettle, Daniel (2008): Persönlichkeit. Warum du bist, wie du bist. Köln.
3. Von Bredow, Rafaela (2006): Macht der Niedertracht. In: DER SPIEGEL Nr. 5. S. 124–126.
4. Boehm, Christopher (2012): Moral Origins. New York
5. Gintis, Herbert (2008): Punishment and Cooperation. In: Science. Vol 319. Nr. 7. März. S. 1345-1346.
6. Voland, Eckhart (2000): Grundriss der Soziobiologie. Heidelberg, Berlin.
7. Buss, David M. (2004): Evolutionäre Psychologie. München.
8. Nörretranders, Tor (2006): Über die Entstehung von Sex durch generöses Verhalten. Reinbek.
9. Bickerton, Derek (2009): Adam’s Tongue. New York.
10. Hrdy, Sarah Blaffer (2009): Mütter und andere. Wie die Evolution uns zu sozialen Wesen gemacht hat. Berlin.