Hat sich der Mensch in der Geschichte immer wieder selbst ein Bein gestellt? Und jeden kärglichen Zugewinn an Wohlstand durch allzu heftige Vermehrung wieder aufgezehrt? Sind wir also zu dumm und zu sexualorgangesteuert für echten Fortschritt? Dieser Meinung war jedenfalls der Brite Thomas Robert Malthus (1766-1834). Aber hatte er Recht?
Fakt ist: Wer der Meinung ist, es gäbe zu viele Menschen auf der Welt, meint meistens nicht sich selber. Zu dieser Kategorie scheint vor allem auch Malthus gehört zu haben. Mit quasi mathematischer Akribie unternahm er den Nachweis, dass der wirtschaftlich-technische Fortschritt auf lange Sicht stets vom Fortpflanzungstrieb eingeholt wird, so dass der Menschheit am Ende nur immer wieder Elend und Übervölkerung dräuen. Weshalb überschüssiges Menschenmaterial auch keinen irgendwie gearteten Rechtsanspruch aufs Überleben habe. Ein Gedanke, den Malthus in bemerkenswert schneidige Worte kleidete:
„… dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht,irgend einen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedecke für ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt nicht, selbst diesen Befehl zur Ausführung zu bringen.“(1)
Besonders apart an diesem Statement, dass es sich bei Malthus nicht etwa um einen hochrangigen Militär mit Verbindungen zu rechtsradikalen Kreisen handelte, sondern um einen anglikanischen Pfarrer (umtriebig war er allerdings vorwiegend innerhalb seiner Geschichts- und Wirtschaftsprofessur). Den Umstand, dass für anglikanische Geistliche kein Zölibat besteht, nutzte er übrigens, sich zu vermählen und dem Königreich drei Kinder zu schenken.
Als ausgesprochen malthusianische Epoche gelten beispielsweise die 1830er und 1840er Jahre in England – mitten in der frühindustriellen Phase. In dieser Zeit griff die Verelendung flächendeckend um sich: Bettler, Prostitution, Alkoholismus und kriminelle Banden gehörten genauso zum Alltagsleben wie immer wieder aufflackernde Epidemien. In der Zeit zwischen 1790 und 1840 verringerte sich die durchschnittliche Lebenserwartung von 35,5 auf 31,5 Jahre. Ebenso markant spiegeln sich massenhafte Armut und Mangelernährung darin wider, dass die Durchschnittsgröße von Rekruten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts um mehrere Zentimeter abnahm (2).
Aber hatten sich die Menschen wirklich so rasant vermehrt, dass sie sich sozusagen um den letzten Brotkanten balgen mussten? Die Wirtschaftsstatistik spricht eine andere Sprache (3):
Wiedergegeben ist das Bruttosozialprodukt pro Kopf! Natürlich ist die Bevölkerung in dieser Zeit gewachsen – aber die Produktivität eben noch stärker. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist der Kuchen für jeden einzelnen größer geworden. Jedenfalls in der Theorie. Wenn so wenig Kuchen auf den Tellern der Armen gelandet ist, müssen die größeren Brocken aber irgendwie den Weg nach oben genommen haben. Womit das Ganze weniger malthusianisch als manchesterkapitalistisch riecht.
Zücken wir doch einmal unseren historischen Zirkel und schlagen einen noch gewagteren Bogen.
Dem Wirtschaftshistoriker Gregory Clark zufolge hat sich im Zeitraum vom altbabylonischen Reich bis zum Beginn der Industriellen Revolution für die breiten unteren Schichten in Hinblick auf Lebenserwartung, Ernährungszustand, Arbeitsbelastung, Habselig-keiten oder Wohnverhältnisse so gut wie nichts geändert (4).
Heißt das nun, dass die Menschen um 1700 (kurz vor der Industriellen Revolution) kein Stück produktiver waren als ungefähr 3.500 Jahre vorher (Babylon)? Sehr einleuchtend scheint das nicht gerade, denn in dieser Zeit haben sich beachtliche Umbrüche abgespielt: Von der Bronze zu Eisen und Stahl, Windmühlen, schwere Pflüge mit Eisenscharte, Pferde, Kutschen, Segelschiffe, Fernrohre undundund. Wer Lust hat, kann sich auf Wikipedia einen Eindruck verschaffen, was so alles in diesem Zeitraum erfunden wurde (5).
Aber hat am Ende nicht vielleicht doch der animalische Vermehrungs-drang der Massen die Früchte all dieser schönen Errungenschaften zu Schanden gemacht? Nun – es sieht nicht so aus. Seit fast zwanzig Jahren mittlerweile bemühen sich Angus Maddison und sein Team, die Wirtschaftsleistung historischer Gesellschaften zu berechnen. Und danach hat sich das britische Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt von der Antike bis zum Beginn der Industrialisierung (gemessen an der Getreideproduktion) ungefähr vervierfacht (6). Bevölkerungswachstum hin oder her – um 1700 hätte es einem britischen Bauern ungefähr viermal besser gehen sollen als seinem babylonischen Gegenstück*. Zugegeben: Ein großes „hätte sollen“. Denn offensichtlich haben sich über die Jahrtausende nicht nur die mechanischen Künste verfeinert, sondern auch die der Ausbeutung.
1. Zitiert nach 2)
2. Koenen, Gerd (2017): Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. München.
3. https://ourworldindata.org/wp-content/uploads/2013/11/GDP-per-capita-in-the-uk-since-1270.png
4. Clark, Gregory (2008): A Farewell to Alms. A Brief Economic History of the World. Princeton u. Oxford.
5. https://en.wikipedia.org/wiki/Timeline_of_historic_inventions
6. Maddison, Angus (2007): Contours of the World Economy, 1–2030 AD. Essays in Macro-Economic History. Oxford.
*. Über Zwischenstationen schätze ich (ziemlich grob), dass die Produktivität in England zum Jahre 0 ungefähr der altbabylonischen entsprach.